Deloitte hat im Rahmen der Studie «Mobilität der Zukunft» eine Umfrage in der Schweiz zum Mobilitätsverhalten durchgeführt. Was an den Ergebnissen hat Sie selbst überrascht?
Mich haben bei dieser Umfrage im Wesentlichen drei Punkte etwas überrascht: Erstens, dass nur 40 Prozent der Befragten davon ausgehen, in zehn Jahren noch ein eigenes Auto zu besitzen. Dies hätte ich nicht so deutlich erwartet. Wir sehen aber auch aus ähnlichen Umfragen, dass Befragte oft sehr ambitioniert antworten. Ich bin zweitens erstaunt, dass bereits heute 47 Prozent der Befragten ein anderes Verkehrsmittel als das Auto präferieren. Und drittens kamen wir aus den Antworten zum interessanten Schluss, dass es noch erstaunlich viel Aufklärung zum Thema Haftung und (teil-) autonomem Fahren brauchen wird.
Dr. Michael Ruosch ist 2019 als Senior Manager bei Deloitte Schweiz eingestiegen und seit 2023 als Director im Geschäftsbereich Insurance Innovation & Transformation tätig.
Geschieht der mobile Wandel nicht langsamer, als von vielen Experten erwartet?
Wir gehen davon aus, dass sich der Wandel weg vom eigenen Auto hin zum vollständig autonomen Fahren auf einer Zeitskala von 10 bis 20 Jahren vollziehen wird. Die technologische Entwicklung geht weiter und entsprechende Mobilitätsangebote werden bereitgestellt. All das braucht jedoch seine Zeit. Für viele Menschen birgt das eigene Auto zudem noch ein Gefühl von Unabhängigkeit, die so einfach nicht aufgegeben wird. Es wird auch auf der regulatorischen Ebene noch einige Voraussetzungen brauchen, bis es für uns als selbstverständlich gilt, sämtliche Mobilität über eine App on-Demand zu buchen, wie beispielsweise ein fahrerloses Uber-Fahrzeug.
Der Wandel weg vom eigenen Auto hin zum autonomen Fahren wird sich in 10 bis 20 Jahren vollziehen.
Michael Ruosch, Deloitte
Ein Dauerbrenner sind die selbstfahrenden Autos. Hat der Hype da nicht ebenfalls stark nachgelassen - oder täuscht der Eindruck?
In der Tat zeigt unsere Studie, dass eine Mehrheit der Bevölkerung selbstfahrenden Autos (Level 5) immer noch skeptisch gegenübersteht. Jedoch werden Assistenzsysteme (Level 2) schon heute rege genutzt. Sobald die technische Entwicklung genügend ausgereift ist, gehen wir davon aus, dass sich aufgrund der Convenience und nachweisbar höherer Sicherheit für Fahrer, Beifahrer und andere Verkehrsteilnehmer ein schneller Wandel abzeichnen wird.
Die Haftungsfragen sind bei autonomen Autos noch immer nicht im Detail geklärt. Wer sollte Ihrer Meinung nach bei einem Unfall haften?
Die Haftungsfrage bei (teil-)autonomen Fahrzeugen ist komplex, jedoch haben erste Autohersteller bereits Konzepte dafür entwickelt. Mercedes beispielsweise hat ein starkes Statement gemacht, die Haftung zu übernehmen, wenn sich das Auto im autonomen Modus befindet. Der menschliche Fahrer muss das System nicht permanent überwachen, sondern darf anderen Tätigkeiten nachgehen. Grundsätzlich sollten Hersteller für technische Mängel haften, also für Unfälle, die im autonomen Fahrmodus geschehen, während Nutzer bei Fehlbedienungen oder (teilweise) ausgeschalteten Fahrassistenzsystemen verantwortlich sein sollten. Spannend wird es sein zu beobachten, welche Versicherungsprodukte dafür auf den Markt kommen werden: Wird für mich als Kunde die Prämie zukünftig allenfalls günstiger, wenn ich den «Autopilot» einschalte?
Grundsätzlich sollten Hersteller für technische Mängel haften.
Michael Ruosch, Deloitte
Den Autoversicherungen wurde schon ein langsamer Tod vorausgesagt. Ist das ein realistisches Szenario?
Generell wird es auch in Zukunft immer noch Autoversicherungen brauchen. Diese werden sich aber stark wandeln. Ich gehe davon aus, dass die Flottenversicherung an Gewicht gewinnen wird (der Versicherungsträger also weg vom Nutzer und hin zum Autohersteller oder Mobilitätsanbieter übergeht), während die klassische Autoversicherung für Privatpersonen mittelfristig an Relevanz verlieren wird. Es eröffnen sich also auch neue Chancen und Wachstumspotenziale für Versicherungen.
Gleichzeitig sind Autoversicherungen heute immer noch das “Brot-und-Butter-Geschäft”, gerade für den Aussendienst. Wird hier ein Wandel in der Denkhaltung stattfinden müssen?
Für den klassischen Aussendienst wird sich viel verändern, davon bin ich überzeugt. Heute besitzt die Versicherung einen direkten Kontakt zum Retail-Kunden über die Versicherungspolice, welche häufig über den Agenten aus der Region abgeschlossen wurde. Durch den Wegfall des persönlichen Autobesitzes wird es diesen Kontakt so nicht mehr geben. Die Kundenschnittstelle kann aber über zwei andere Wege gehalten werden: Zum einen über andere Versicherungsprodukte wie Leben oder die Krankenversicherung. Zum anderen über Versicherungsprodukte, die auf den Kunden ausgerichtet sind und sämtliche Risiken oder Services in der Nutzung von Mobilitätsangeboten modular abdecken, wie zum Beispiel einen Unfall mit dem Scooter, ein Diebstahl im Bus oder ein verpasster Flug.
Für den klassischen Aussendienst wird sich viel verändern.
Michael Ruosch
Sind Versicherungen auf diesen Wandel überhaupt ausreichend vorbereitet?
Der Zeithorizont ist lange, jedoch sprechen wir von tiefgreifenden Transformationen. Daher müssen sich Versicherer bereits jetzt Gedanken machen, um den Anschluss mittelfristig nicht zu verpassen.
…und reagieren die Schweizer Versicherer schnell genug, oder werden sie von der Entwicklung überrollt?
Wir sind mit verschiedenen Versicherern im Gespräch und beobachten unterschiedliche Vorgehensweisen, wie diese mit dem Wandel in der Mobilität umgehen. Den grössten Wandel im Motorfahrzeuggeschäft sehe ich in einer länderübergreifenden Produkt- und Tarifgestaltung, daher werden insbesondere kleinere, regional fokussierte Player im Markt gegenüber globalen Versicherern oder Technologie-Unternehmen einen Nachteil haben. Grundsätzlich wird der Wandel in der Mobilität meiner Meinung nach jedoch eher unterschätzt.
Um im «Driver Seat» zu bleiben, müssen Versicherungen ihre strategische Positionierung in der neuen Welt definieren.
Michael Ruosch, Deloitte
Wie können Versicherungen im «Driver Seat» bleiben und ihr Geschäft auch bei einem sich stark veränderten Mobilitätsverhalten behalten oder gar stärken?
Um im «Driver Seat» zu bleiben, müssen Versicherungen ihre strategische Positionierung in der neuen Welt definieren, die richtigen Partnerschaften im neuen Ökosystem knüpfen, sich bewusst mit neuen Produkten und Services auseinandersetzen und ihr Betriebsmodell entsprechend anpassen. Diese Anpassungen ermöglichen es ihnen, auf die sich ändernden Kundenbedürfnisse und Marktdynamiken effektiv zu reagieren und ihre Wettbewerbsposition zu stärken.
Und vielleicht ein Blick in die Kristallkugel: Wo steht der Markt für Motorfahrzeugversicherungen in zehn Jahren?
In zehn Jahren wird es ein hybrides Modell zwischen persönlichem Besitz und Shared Mobility geben. Zudem erwarten wir auch bereits Autos mit Level-4-Autonomie. Daher wird die Verschiebung weg vom B2C hin zum B2B (Haftung) und B2B2C (zusätzliche Produkte und Services) Versicherungsmodell bereits deutlich spürbar und auch mit einer kleineren Kundenbasis im klassischen Motorfahrzeug-Geschäft einhergehen.
Welche Mobilitätstrends werden sich in der Schweiz am stärksten durchsetzen und die grössten Veränderungen bewirken?
Dadurch, dass die Schweiz im internationalen Vergleich eine hervorragende Infrastruktur zu bieten hat, könnte sie ein interessanter Markt sein für Mobilitätsplattformen, die dem Kunden die verschiedenen Mobilitätsangebote aus einem Guss anbieten, etwa ein fahrerloses Taxi kombiniert mit Zug. Jedoch beobachten wir auch, dass die Schweiz regulatorisch z.B. den USA oder Deutschland hinterherhinkt, wo Level 3 auf gewissen Autobahnabschnitten bereits erlaubt ist. Hier ist also die Politik gefragt, um zeitgerecht die richtigen Voraussetzungen zu schaffen.