Sie haben in Ihrer Studie «Versicherungskernsysteme im Wandel» die IT-Kernsysteme der Versicherer in der DACH-Region beleuchtet: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erkenntnisse?
Die wichtigsten Erkenntnisse der Studie sind, dass 75 Prozent der befragten Versicherer in der DACH-Region planen, ihre IT-Kernsysteme in den nächsten drei Jahren zu modernisieren oder auszutauschen. Diese Kernsystem-Transformationen sind sehr umfassend sowie komplex und benötigen Investitionen in den Bereichen Technologie, Prozesse sowie organisatorische Veränderungen. Dies wird die Versicherer die nächsten Jahre beschäftigen. Da benötigen die Versicherer zwingend einen langer Atem, ein realistisches Budget und einen starken Fokus auf den Business Case. Hauptziel der Kerntransformation ist meist die Erhöhung des Automatisierungsgrades und der Integrationsfähigkeit, um Kosten niedrig zu halten und ein besseres Kundenerlebnis zu bieten. Start-Ups und Tech-Unternehmen kommen mit immer mehr innovativen Lösungen in den Versicherungsmarkt und zwingen so auch die bestehenden Versicherer, ihre IT-Strategie zu überdenken.
Die Versicherungsbranche hat sicherlich noch Aufholpotenzial.
Jörg Thews
Die Digitalisierung schreitet unaufhaltsam voran. Hinken die Versicherer den anderen Branchen weit hinterher?
Die Versicherungsbranche hat - gerade auch im Vergleich zum Bankwesen oder dem Einzelhandel - sicherlich noch Aufholbedarf, was das Ausmass der Digitalisierung anbelangt, besonders im Einzelleben-Geschäft. Das ist vor allem offensichtlich was Kundenerlebnis, End-to-End Prozesse, Automatisierung und Datenintegration anbelangt. Das ist auch der Grund, warum laut unserer Studie die meisten Versicherer aktuell bereits in einer Transformation sind oder diese planen und verstärkt in IT -Technologie und Automatisierung investieren. Die Versicherungsbranche ist stark reguliert, was in der Vergangenheit die Innovationskraft eingeschränkt hat und oft als Grund für die langsamere Digitalisierung genannt wurde. Auch die komplexe IT-Landschaft und über Jahre hinweg entwickelte Altsysteme, die nicht einfach zu ersetzen sind, sind Gründe für die erschwerte Transformation.
Sie stellen in Ihrer Studie fest, dass die Schweizer Versicherer mit höheren Komplexitätsanforderungen konfrontiert sind. Wie äussert sich das - und ist das ein Wettbewerbsnachteil?
Jedes europäische Land hat seine regulatorischen Herausforderungen. Die Schweiz ist im Vergleich klein, aber sehr fragmentiert, mit starkem Wettbewerb und muss viele internationale und nationale Vorschriften einhalten, insbesondere im Bereich der beruflichen Vorsorge oder auch Unfall- und Krankenversicherung. Zudem hat die Schweiz vier Landessprachen sowie eine diverse Bevölkerung mit hohen Erwartungen an Dienstleistungen und Produkten. Die Erfüllung von Kundenerwartungen und Anforderungen an IT-Systeme kann die Betriebskosten erhöhen. Auf der anderen Seite ist die Preissensitivität der Schweizer Kunden eher niedrig, weshalb im Markt noch sehr gesunde Margen erzielt werden können.
Jörg Thews ist seit 2019 Global Client Partner und Swiss Insurance Leader bei PwC Schweiz.
Diese höheren Kosten und der geringere Druck zur Innovation könnten sicherlich als Gründe eingeschränkter Wettbewerbsfähigkeit genannt werden. Andererseits kann die Fähigkeit, in einem solch komplexen Umfeld zu operieren, Schweizer Versicherern einen strategischen Vorteil bieten, insbesondere in Bezug auf die Qualität und Zuverlässigkeit ihrer Dienstleistungen. Höhere Betriebsergebnisse und Margen sorgen natürlich dafür, mehr Kapital zur Verfügung zu haben, um in die Digitalisierung zu investieren.
Die Modernisierung ist entscheidend, um wettbewerbsfähig zu bleiben und den Kundenanforderungen gerecht zu werden.
Jörg Thews
Wie ist es grundsätzlich um die Modernisierung der IT-Kernsysteme bei Schweizer Versicherern bestellt?
Die Modernisierung der IT-Kernsysteme bei Schweizer Versicherern ist ein fortlaufender Prozess, der durch das Bedürfnis nach mehr Effizienz, verbesserter Kundeninteraktion und Compliance mit regulatorischen Anforderungen getrieben wird. In unserer Studie haben wir festgestellt, dass die meisten Schweizer Versicherer aktiv an der Modernisierung ihrer Systeme arbeiten und eine mehrjährige Transformationsreise vor sich haben. Das spiegelt sich in Bereichen wie Cloud-Technologien, Automatisierung, die Verbesserung von Kundenschnittstellen und die Integration von externen Systemen wider. Diese Modernisierung ist entscheidend, um wettbewerbsfähig zu bleiben und den Kundenanforderungen gerecht zu werden.
Viele Versicherer haben allerdings auch festgestellt, dass die Transformationskapazität und ihre Fähigkeiten, grosse IT-Kernsystemtransformationen zu stemmen, limitiert sind. Dazukommt oftmals noch ein (zu) optimistischer Business Case, was gesamtheitlich dazu geführt hat, dass Programme verlangsamt oder radikal zurückgefahren wurden. Grundsätzlich stehen Transformationsbedarf und Transformationsfähigkeiten nicht immer im Einklang.
Viele Versicherer plagen sich noch immer mit Bestandssystemen herum. Wird das angesichts der vorherrschenden Schnelligkeit nicht langsam zum Problem?
In der Tat wird das zunehmend zum Problem. In der schnelllebigen digitalen Ära, in der technologische Fortschritte und Kundenerwartungen stetig wachsen, können veraltete Bestandsysteme die Agilität und Reaktionsfähigkeit der Versicherer stark einschränken. Altsysteme sind häufig weniger effizient in der Datenverarbeitung, was zu langsamen Reaktionszeiten bei Kundenanfragen führen kann - und dadurch zu einer schlechteren Kundenerfahrung.
Altsysteme sind zudem oft mit hohen Betriebskosten verbunden und können ein höheres Sicherheitsrisiko darstellen. Durch alte Bestandssysteme kann die Innovationsfähigkeit der Unternehmen gehindert werden, da man sich zu stark auf die Aufrechterhaltung fokussieren muss.
Welche sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren bei der Einführung neuer Kernsysteme?
Die Einführung neuer IT-Kernsysteme treibt notwendigerweise eine gesamtheitliche und komplexe Veränderung mit sich, die alle Facetten der Organisation betrifft, wie zum Beispiel neue und alte Technologie, neue Geschäftsprozesse und Strukturen, Compliance, Datensicherheit und die Entwicklung der Mitarbeitenden. Daher muss eine solche mehrjährige Transformationsreise gut geplant, gemanagt und umgesetzt werden. Das heisst, auch eine effektive Ressourcenplanung und eine klare Linie, was intern gestemmt werden kann, und wo es externe Unterstützung braucht.
Weitere Erfolgsfaktoren bei der Einführung neuer Kernsysteme in der Versicherungsindustrie umfassen eine klare strategische Vision, einen detaillierten Business Case und die enge Zusammenarbeit zwischen IT und Business. Aufgrund der langen Projektdauer von ca. zwei bis drei Jahren sind eine sorgfältige Planung und ein agiles Projektmanagement entscheidend, um flexibel auf Veränderungen reagieren zu können. Die Einbindung von Mitarbeitenden und die kontinuierliche Schulung fördern die Akzeptanz und den erfolgreichen Einsatz der neuen Systeme. Schliesslich spielt die Auswahl der richtigen Technologie- und Implementierungspartner eine wesentliche Rolle für den Projekterfolg.
Eine mehrjährige Transformationsreise muss gut geplant, gemanagt und umgesetzt werden.
Jörg Thews
Die durchschnittliche IT-Kostenquote bei den Versicherern liegt bei rund 2,7 Prozent, die Change-Kosten liegen bei 1,2 Prozent. Wie ordnen Sie das ein?
Die Kostenquote zeigt, dass aufgrund alter Bestandssysteme und veralteter IT-Architekturen die Legacy IT einen nicht unerheblicher Kostenblock darstellt, der immer noch beachtliche Ressourcen einnimmt. Das beschränkt Versicherer oftmals, notwendige Ressourcen in die Transformation beziehungsweise den Change zu stecken und existierende Strukturen aufzubrechen. Das Change-Budget hingegen ist grundsätzlich erst mal ein positiver Indikator, dass Unternehmen den Bedarf, in ihre Systeme zu investieren, sehen, um Wettbewerbsvorteile zu sichern und auf neue Marktanforderungen zu reagieren. Trotzdem muss diese Gleichung ausbalanciert werden: Die IT-Kosten niedrig zu halten und gleichzeitig ein effizientes, modernes IT-System zu betreiben, ist eine Herausforderung für die Versicherer.
Unternehmen, die höhere Prozentsätze investieren können, sind oft besser vorbereitet, sich schnell an verändernde Marktbedingungen und Kundenanforderungen anzupassen. Das heisst, dass es einen klar strukturierten und detaillierten Business Case benötigt, der langfristig angelegt ist - und vor allem auch beinhaltet, wie man TCO und IT-Strukturen effizienter gestaltet.
Ist die Künstliche Intelligenz - gerade was Effizienz und Automatisierung anbelangt - ein «Game Changer» für die Versicherungsindustrie?
Die effiziente Versicherung ist idealerweise eine «Entscheidungs-Fabrik», also eine Organisation, in der effektiv und weitestgehend automatisiert wesentliche Entscheidungen getroffen werden können - sei es im Underwriting oder im Schaden. Daher kann KI ein absoluter Game Changer sein, um Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen. Relevante Use Cases betreffen Prozessautomatisierung, Kundeninteraktion, Betrugserkennung oder personalisierte Versicherungsprodukte. KI kann Prozesse wie Schadensbearbeitung, Zahlungsverkehr, Risikobewertung und Kundenservice erheblich beschleunigen und verbessern. Durch den Einsatz von KI können Versicherer Kosten senken, Fehler reduzieren und eine personalisierte Kundenbetreuung bieten. Dies führt zu einer insgesamt effizienteren und wettbewerbsfähigeren Branche.
Die effiziente Versicherung ist idealerweise eine «Entscheidungs-Fabrik».
Jörg Thews
In der Studie betonen Sie die Wichtigkeit der Zusammenarbeit zwischen IT und Business, allerdings gibt es häufig gerade dort ein Spannungsverhältnis. Wie kann der Knoten gelöst werden?
Um das Projekt von Anfang an auf die Beine zu stellen, ist es wichtig, dass Business und IT eng bei der Projektdefinition und bei der Erstellung des Business Cases zusammenarbeiten – und beide dies dann auch unterschreiben. Viele Schweizer Versicherer haben deshalb typischerweise sowohl einen Business-, als auch einen IT-Projektleiter, die gemeinsam das Gesamtprojekt leiten. In der eigentlichen Projektumsetzung helfen cross-funktionale Teams und agile Arbeitsmethoden sowie eine effektive Projekt-Kommunikation und starkes Change-Management. Weitaus grössere Spannungsverhältnisse bestehen öfter zwischen der Legacy IT-Organisation und dem IT-Change / Projekt-Team - auch hier ist eine enge Zusammenarbeit unumgänglich.
Ein weiterer Aspekt Ihrer Studie ist der drohende Fachkräftemangel in der IT. Wie kann die Versicherungsindustrie dem begegnen?
Altsysteme benötigen oft noch veraltete Technologien, welche nicht mehr zeitgemäss sind oder nicht mehr vom Anbieter supportet werden. Wenn ältere Kolleginnen oder Kollegen das Unternehmen verlassen, entstehen so oft Wissenslücken, die schwer mit jungen Fachkräften zu füllen sind, vor allem wenn IT-Fachkräfte in allen Industrien gesucht werden. In einem solch kompetitiven Umfeld muss sich die Versicherungsindustrie frühzeitig und zukunftsorientiert an Ausbildungsstätten und Universitäten positionieren.
Versicherungsunternehmen mit modernen Technologien sind attraktiv für junge Fachkräfte, wobei jetzt gerade auch die zunehmende Bedeutung von KI zusätzliches Interesse generieren sollte. Eine attraktive Arbeitsumgebung, Aus- und Weiterbildungsprogramme für Fachkräfte, die weitreichende Karrieremöglichkeiten bieten, sind wichtige Massnahmen der Versicherungsindustrie.