Herr Menzinger, Covid-19 stellt für viele Unternehmen eine grosse Herausforderung dar: Wie ist die Situation bei der Swiss Re?
Aus operativer Sicht stellt die Situation für uns keine besondere Herausforderung dar. Die Digitalisierung ist bei uns schon weit fortgeschritten und auch die Notfallplanung ist Routine, weshalb wir gut auf diese Ausnahmesituation vorbereitet waren. Unser Geschäft verlief ohne Unterbrechungen, derweil die meisten unserer Mitarbeitenden rund um den Globus von zuhause aus arbeiteten und dies je nach Region auch nach wie vor tun. Wir sind zudem in der glücklichen Lage, dass unsere Dienstleistungen weiterhin gefragt sind und wir diese auch anbieten dürfen.

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Sie waren gut vorbereitet. Hat das damit zu tun, dass die Pandemie für Sie nicht ganz überraschend kam?
Kraft unserer Funktion sind wir stets darum bemüht, potenzielle Risiken zu antizipieren. Unsere Fachleute auf der ganzen Welt sind täglich damit beschäftigt, zukunftsbezogene Risiken – sogenannten Emerging Risks – zu identifizieren. Wenn nicht schon seit der Spanischen Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts, dann wussten unsere Fachleute spätestens nach dem Ausbruch der SARS-Pandemie zu Beginn des Jahrtausends, dass früher oder später wieder ein ähnliches Ereignis auf uns zukommen wird.

Trotzdem überraschte Covid-19 viele. Warum?
Unser CEO Christian Mumenthaler formulierte es wie folgt: Das menschliche Gehirn hat Mühe, Interesse an Dingen zu finden, die noch nicht geschehen sind. Tatsache ist: Auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz hat Pandemien schon vor Jahren als potenzielle Grossrisiken identifiziert. Es gab einen Pandemieplan und vieles hat funktioniert – aber eben nicht alles. Dies, weil entsprechende Vorbereitungen als nicht relevant oder dringend genug eingestuft wurden.

«Kaum jemand rechnete damit, dass die Pandemie eine Unterbrechung von so vielen wirtschaftlichen Aktivitäten zur Folge haben würde.»

Ist Covid-19 das Worst-Case-Szenario?
Wenngleich eine menschliche Tragödie, hätte es in Bezug auf die Mortalität und Übersterblichkeit noch einiges schlimmer kommen können. Trotzdem sind die Folgen der Krise gross. Kaum jemand rechnete damit, dass die Pandemie eine Unterbrechung von so vielen wirtschaftlichen Aktivitäten zur Folge haben würde.

In den vergangenen Wochen wurde die Forderung nach einer Versicherungslösung für die wirtschaftlichen Auswirkungen von Pandemien laut: Warum gab es eine solche Lösung bisher noch nicht – im Gegensatz etwa zur kollektiven Absicherung von Terror- oder Naturereignissen?
Ein Hauptgrund dafür liegt darin, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Pandemie rein privatwirtschaftlich grundsätzlich nicht versicherbar sind. Ein solches Ereignis verstösst eigentlich gegen sämtliche Prinzipien der Versicherbarkeit. Denn: Eine Pandemie ereignet sich per Definition weltweit zur selben Zeit, wodurch eine Diversifizierung verunmöglicht wird. Da die wirtschaftlichen Schäden letztlich durch behördlich angeordnete Schliessungen entstehen, ist auch die Schätzbarkeit stark eingeschränkt.

Sie leiten innerhalb des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV ein Projektteam, das derzeit daran ist, die Machbarkeit einer Lösung für künftige Pandemien zu prüfen und die Erkenntnisse in die Projektorganisation des Bundes einzubringen. Wie weit sind Sie mit Ihrer Arbeit?
Ziel der brancheninternen Projektorganisation ist, bis Ende September einen Bericht zuhanden des eidgenössischen Finanzdepartements vorzulegen. Normalerweise nehmen solche Projekte viel mehr Zeit in Anspruch – aber dieses Mal muss es schnell gehen. Ich bin zuversichtlich, dass die Arbeitsgruppe zeitnah einen Lösungsvorschlag präsentieren kann.

Welche Rolle spielt die Politik bei dem Vorhaben?
Eine wesentliche. Ein solches Projekt wird nur dann zum Erfolg, wenn die Politik die erforderlichen Rahmenbedingungen schafft. Wir denken, dass mit dem bestehenden Epidemiegesetz schon eine gute Grundlage zum Aufbau einer solchen Public-Private-Partnership besteht. Es geht hier um die bessere Vorbereitung der Gesellschaft auf die nächste Pandemie. Die finanzielle Vorbereitung ist ein wesentlicher Teil davon. Entscheidend ist, dass das Vorhaben auf die finanzielle Rückendeckung des Bundes beziehungsweise der öffentlichen Hand zählen kann.

«Der Elementarschadenpool zeigt, dass die Solidarität der Versicherten und der Versicherer in der Schweiz funktioniert.»

Ist das realistisch?
Die Elementarschaden-Versicherung ist ein hervorragendes Beispiel. Der Elementarschadenpool zeigt, dass die Solidarität der Versicherten und der Versicherer in der Schweiz funktioniert. Bei dieser Versicherung zahlen alle die gleiche Prämie – ganz egal, wie gross die Gefährdungslage für die einzelnen Personen ist. Auch eine Pandemieversicherung müsste zu einem hohen Grad ein Solidarwerk werden, einschliesslich der Beteiligung des Bundes.

Sie denken an ein Obligatorium?
Damit die Lösung funktionieren kann, braucht es eine sehr hohe Versicherungsdurchdringung, was jedoch nicht notwendigerweise mit einem Obligatorium gleichzusetzen ist. Ein solches Modell wird nur dann erfolgreich sein, wenn ein Grossteil der Unternehmen mitmacht und sich an der Vorfinanzierung beteiligt. Freiwilligkeit wird aus meiner Sicht nicht funktionieren.

Warum nicht?
Manche Unternehmen würden gegebenenfalls darauf hoffen, dass die öffentliche Hand im Notfall wieder einspringen würde und es deswegen keine Versicherung braucht. Ich glaube kaum, dass die Politik im Notfall betroffenen KMU sagt: Ihr habt bewusst darauf verzichtet, vorzufinanzieren, also gibt es jetzt keine Unterstützung.

Wie könnten die Rollen der einzelnen Interessensgruppen aussehen?
Die Versicherungsnehmer müssen bereit sein, über den Selbstbehalt und eine gewisse Karenzfrist einen Teil des Risikos zu übernehmen. Zudem sollte der Anreiz zur Selbstvorsorge auch in Zukunft bestehen und idealerweise zusätzlich gestärkt werden. Auch die Versicherer sind bereit, bei einer sachgerechten Prämie einen Teil des finanziellen Risikos übernehmen. Mindestens so wichtig ist aber, dass sie die Kontakte zu hunderttausenden Unternehmen im Land haben sowie über das nötige Know-how verfügen, um tatsächlich aufgrund der Pandemie erlittene Schäden automatisiert zu quantifizieren und abzuwickeln. Das erlaubt einen gezielten und effizienten Einsatz privater und öffentlicher Mittel. Die öffentliche Hand wird als ultimativer Garantiegeber ebenfalls Risiko tragen müssen.

«Das Schadenspotenzial einer Pandemie ist immens. Allein im April haben in der Schweiz etwa 130'000 direktbetroffene Unternehmen Kurzarbeit beantragt.»

Warum ist die Automatisierung nötig?
Das Schadenspotenzial einer Pandemie ist immens. Allein im April haben in der Schweiz etwa 130'000 direktbetroffene Unternehmen Kurzarbeit beantragt. Eine derart grosse Anzahl Schäden lässt sich nur über hochautomatisierte Lösungen abwickeln.

Apropos Kurzarbeit: Würde eine Pandemieversicherung auch in diesem Bereich zum Tragen kommen?
Nein, wir denken, dass das Instrument komplementär zu schon bestehenden Hilfsinstrumenten wirken sollte. Eine Existenzsicherung für Unternehmen sollte sich an den ungedeckten Fixkosten während eines Lockdowns orientieren.

Braucht es einen nationalen Pandemiepool oder wäre auch eine länderübergreifende Lösung denkbar?
Auch wenn sich in den verschiedenen Ländern oftmals die gleichen Fragen stellen, gehen die Lösungsansätze je nach System auseinander. Das liegt daran, dass die Rahmenbedingungen überall unterschiedlich sind. Deshalb sehe ich eine länderübergreifende Lösung als wahrscheinlich zu schwierig.

Lassen Sie uns abschliessend ein Blick in die Zukunft wagen: Welche Lehren sollte die Versicherungsbranche aus der Coronakrise ziehen?
In Bezug auf das tägliche Geschäft hat uns die Krise die Wichtigkeit von klaren Vertragstexten vor Augen geführt. Wir wollen keine Deckungslücken – aber die Versicherungswirtschaft kann auch nicht für Schäden aufkommen, für die sie nie Prämien eingenommen hat. Aus übergeordneter Sicht hat diese Krise die Bedeutung der Resilienz der Gesellschaft aufgezeigt. Das ist unsere Mission. Die Versicherungswirtschaft tut alles dafür, die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft und damit auch der Gesellschaft zu stärken.

«Die Pandemie steht in der Risikolandschaft der Schweiz ganz weit oben.»

Was meinen Sie konkret damit?
Die Pandemie steht in der Risikolandschaft der Schweiz ganz weit oben. Obwohl wir in der Theorie wussten, welche Folgen ein solches Ereignis mit sich bringen kann, hat die Gesellschaft nur begrenzte Vorsichtsmassnahmen ergriffen. Diesbezüglich müssen wir in Zukunft sicherlich über die Bücher. Erstens wird irgendwann eine neue Pandemie folgen – und zweitens gibt es noch viele weitere systemische Risiken, die uns ebenfalls grosse Probleme bereiten könnten.

Wie zum Beispiel?
Ich denke etwa an einen grossflächigen Stromunterbruch oder an eine globale Cyber-Attacke. Solche Ereignisse könnten uns grosse Probleme bereiten. Als Gesellschaft tun wir deshalb gut daran, uns entsprechend auf diese Szenarien vorzubereiten. Die Coronakrise hat sicherlich vielen Leuten die Augen geöffnet. Solche Dinge gibt es nicht nur in der Theorie – sie passieren tatsächlich. Dieses «Window of opportunity» sollten wir nutzen.

Zur Person
Ivo Menzinger ist Head of Europe / Middle East / Africa & Product Management für Public Sector Solutions beim Rückversicherer Swiss Re. Im Weiteren ist er Leiter des Projekts «Pandemiepool», das seitens Privatversicherer, vertreten durch den Schweizerischen Versicherungsverband SVV, Überlegungen anstellt, wie sich die wirtschaftlichen Schäden einer nächsten Pandemie besser abfedern lassen. Die Versicherungswirtschaft strebt eine Versicherungslösung an, die die bestehende Infrastruktur und Expertise sowie die bestehenden Kundenbeziehungen der Versicherungswirtschaft nutzt und das finanzielle Risiko zwischen Versichertem, der Versicherungswirtschaft und dem Staat teilt. Eine dieser Optionen ist die Errichtung eines Pandemiepools, der auch in diversen anderen Ländern diskutiert wird.