War der Wandel in der Assekuranz jemals so umfassend und rasant wie in den vergangenen 3-5 Jahren Jahren?
Schanz: Die Versicherungswirtschaft hat sich stets erfolgreich an gravierende Veränderungen in der Risikolandschaft angepasst. Denken Sie beispielsweise an die Elektrifizierung und Computerisierung. Was aus heutiger Sicht beispiellos ist, ist die Geschwindigkeit der Veränderungen, zum Beispiel das Aufkommen systemischer Risiken im Cyber-Bereich oder das Potenzial von KI und IoT für Risikoprävention.
- Kai-Uwe Schanz ist seit 2019 Deputy Managing Director and Head of Research & Foresight der Geneva Association.
- Alex Jia ist seit 2022 Director & Collaborating Expert on Digital Technologies bei der Geneva Association sowie seit 2019 Associate Professor of Insurance an der Peking University.
Die Risiken werden immer grösser und vielfältiger. Kann die Versicherungswirtschaft da überhaupt Schritt halten?
Schanz: Ein Blick in die Geschichte legt eine positive und zuversichtliche Antwort auf Ihre Frage nahe. Es gibt eine Vielzahl strategischer Optionen, mit grösseren und anspruchsvolleren Risiken umzugehen. Das Spektrum reicht hier von Produkt- und Geschäftsmodell-Innovation bis zu neuen Formen der Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen.
Welche Trends werden die Assekuranz in den nächsten Jahren global am stärksten beschäftigen?
Schanz: Ich sehe die folgenden Haupt-Trends:
- Klimawandel: Die Versicherungsindustrie steht vor der Herausforderung, auch in Zeiten steigender Schadenfrequenz und -intensität die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen, sprich erschwinglichen Versicherungsschutz zur Verfügung zu stellen. Zudem wird von der Industrie ein Beitrag zur Dekarbonisierung erwartet, sowohl in ihrer Eigenschaft als wichtiger institutioneller Investor als auch im Underwriting-Bereich.
- Demografischer Wandel: Die rapide Alterung ist kein neues Phänomen. Es gibt jedoch Aspekte, welche die besondere Aufmerksamkeit der Assekuranz verdienen. So zum Beispiel die zunehmende Verlagerung des Langlebigkeitsrisikos auf die Schultern der Kundinnen und Kunden (als Folge extrem niedriger Zinsen und hohen Eigenkapitalanforderungen für Garantien). Oder auch die Tatsache, dass Menschen zwar länger leben, aber nicht unbedingt länger gesund leben.
- Digitale Technologien und moderne analytische Verfahren: Auf dieser Grundlage kann die Assekuranz eine strukturelle Herausforderung angehen, nämlich die hohen Transaktionskosten, die nicht selten mehr als 30 Prozent der Prämieneinnahmen ausmachen. Zudem können wir Durchbrüche in der Risikobeurteilung, der Personalisierung von Versicherungsschutz und der Erweiterung der traditionellen Grenzen der Versicherbarkeit erzielen.
Es wird erwartet, dass Technologien bis 2035 zu einem der wichtigsten Treiber für das Versicherungsgeschäft werden.
Alex Jia
Welche Rolle wird die Technologie für die Versicherungswirtschaft in Zukunft spielen?
Jia: Internationale Versicherer und grosse inländische Versicherer setzen inzwischen fast alle (digitale) Technologien ein, um ihre Geschäftsentwicklung voranzutreiben und den Kundenservice zu verbessern. Es wird erwartet, dass Technologien bis 2035 zu einem der wichtigsten Treiber für das Versicherungsgeschäft werden. Diese Technologien werden die Versicherbarkeit erheblich verbessern und auch neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen, wie z. B. die Cyberversicherung. Für viele Versicherer wird Technologie zu ihrer Kernkompetenz bei der Kundenakquise, der Risikobewertung und vor allem der Risikoprävention.
Wie resilient ist die Versicherungswirtschaft - und wie gross ist ihr Beitrag für die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft?
Schanz: Die Versicherungsindustrie hat wiederholt ihre Resilienz auch gegenüber unerwarteten Schocks unter Beweis gestellt. Denken Sie an die Terroranschläge im Jahre 2001 oder an die Corona-Pandemie. Weltweit zahlen Versicherer Schäden und Leistungen im Wert von mehr als 5 Billionen US-Dollar pro Jahr aus. Das sind ca. 5 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Damit leistet die Branche einen grossen Beitrag zur Abfederung von unerwarteten finanziellen Belastungen und dazu, dass Individuen, Haushalte und Unternehmen nach Schocks rasch wieder auf die Beine kommen.
Es gibt Schadenszenarien, welche die Kapitalkraft der Assekuranz bei weitem übersteigen.
Kai-Uwe Schanz
Wo liegen aus Ihrer Sicht die Grenzen der Versicherbarkeit - und welche Lösungsansätze gibt es?
Schanz: Es gibt Schadenszenarien, welche die Kapitalkraft der Assekuranz bei weitem übersteigen. Denken Sie an die Pandemie oder an bestimmte Cyber-Szenarien mit volkswirtschaftlichen Schäden, die in die Billionen gehen. Hier stossen wir als Risikoträger an unsere Grenzen. Das heisst aber nicht, dass wir abseits stehen müssen. Auch jenseits unserer Bilanzen können wir einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Resilienz gegenüber systemischen Risiken leisten, zum Beispiel in der Risikoanalyse, der Risikoprävention oder der Administration staatlicher Schutzmechanismen.
Der so genannte «protection gap» wird in vielen Bereichen immer grösser. Wie kann das Problem angegangen werden?
Schanz: Diese Deckungslücken spiegeln ein komplexes Netz an nachfrage- und angebotsseitigen Faktoren wider. Zum ersten sind Deckungen für Niedrigverdienende oft nicht erschwinglich. Zum zweiten gibt es Probleme bei der Verfügbarkeit, insbesondere von massgeschneiderten Lösungen für spezifische Bevölkerungsgruppen. Zum dritten ist die Zugänglichkeit von Versicherungsschutz zu nennen, sowohl über traditionelle Kanäle wie Agenturen als auch digitale Kanäle. Denken Sie an ältere Menschen oder solche in abgelegenen Gebieten. Zum vierten schliesslich hapert es oft am Bewusstsein für Risiken und am Verständnis für die Funktionsweise von Versicherungen.
Ich sehe zwei zentrale Lösungsansätze: Erstens, moderne Technologien und analytische Verfahren, die den Versicherern helfen, Risiken besser zu verstehen sowie günstiger zu decken und zu vertreiben. Zweitens, eine verstärkte Zusammenarbeit mit Stakeholdern wie Regierungen oder Konsumentenorganisationen.
Auf der Digital Technologies Conference der Geneva Association wurde über Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz diskutiert. Was wird überwiegen?
Jia: Die Chancen überwiegen ganz klar. Das Potenzial ist immens, wenn es darum geht, die Kundenbindung, die operative Effizienz und die Versicherbarkeit zu verbessern. Allerdings sehen wir auch einige Hürden, die es zu überwinden gilt. Dazu gehören zum Beispiel die Qualität und Zuverlässigkeit der Ergebnisse von GenAI, die Datenverwaltung und -nutzung sowie Überlegungen zum Datenschutz.
Das Potenzial ist immens, wenn es darum geht, die Kundenbindung, die operative Effizienz und die Versicherbarkeit zu verbessern.
Alex Jia
Welche Erkenntnisse waren für Sie die wichtigsten?
Jia: Für mich persönlich war die wichtigste Erkenntnis, dass die Versicherungsbranche der KI gegenüber aufgeschlossen sein muss, da sich die Investition langfristig auszahlen kann. Es gibt sicherlich viele Bereiche, in denen die KI-Technologie selbst - und ihre Anwendungen - Verbesserungspotenzial haben. Aber die Versicherungsbranche sollte vermeiden, ein weiteres «Kodak» zu werden, ein Unternehmen, das sich nur zögernd auf digitale Fotos einliess und die damit verbundenen Chancen verpasste.
Risikotransfer auf der Basis starker Bilanzen wird der entscheidende Wettbewerbsvorteil unserer Industrie bleiben.
Kai-Uwe Schanz
Wie wichtig werden Versicherungen in zehn Jahren noch sein?
Schanz: Nun, schon vor 10 Jahren hiess es, dass mit technologie-basierten Durchbrüchen in der Risikoprävention die Rolle der Versicherer als Risikoträger unter Druck geraten würde. Davon ist bisher nichts zu sehen. Risiken werden aus meiner Sicht nicht per se verschwinden, sondern sich verlagern, zum Beispiel im Automobilbereich vom Nutzer zum Produzenten. Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass Risikotransfer auf der Basis starker Bilanzen der entscheidende Wettbewerbsvorteil unserer Industrie bleiben wird. Auch im Bereich Risikoprävention gibt es natürlich grosse kommerzielle Chancen für Versicherer – aber auch für sektorfremde Konkurrenten.