Am 7. September 2022, nur wenige Wochen vor der Bekanntgabe der neuen Krankenkassenprämien, hat Bundesrat Alain Berset sein zweites Massnahmenpaket zur Abfederung des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen vorgestellt. Dieses Paket ist Teil einer immer dirigistischeren politischen Tendenz. Bereits 2020 hatte der Bundesrat, als Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative der Mitte, die Einführung von Kostenzielen in der obligatorischen Krankenversicherung vorgeschlagen.

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Festsetzen eines «begründbaren» Anstiegs?  

Gemäss diesem Gegenvorschlag würde der Bund jeweils den maximalen Prozentsatz des Kostenanstiegs festlegen, und dies für jeden Kostenblock und jeden Kanton. Laut Botschaft des Bundesrats soll dieser Grenzwert auf Grundlage des Mengen- und Preisanstiegs berechnet werden, der «medizinisch und ökonomisch begründbar» ist – wobei Faktoren wie «wirtschaftliche Entwicklung, Lohn- und Preisentwicklung, technischer Fortschritt, Demografie und Morbidität» berücksichtigt werden sollen. Im Falle einer Überschreitung des Grenzwerts würde der Bund prüfen, ob Korrekturmassnahmen notwendig wären.

Egal ob man nun für oder gegen ein stärkeres Eingreifen des Staates in diesem Bereich ist, die eigentliche Frage ist eine ganz andere: Hat der Bundesrat – und im weiteren Sinne die Bundesverwaltung – überhaupt die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten, eine Kostenentwicklung zu determinieren und so die kantonalen Maximalwerte für einzelne Kostenblöcke festzulegen?

Kostenprognosen gehen nach unten und nach oben

Wenn es darum geht, das medizinisch und ökonomisch begründbare Wachstum der Gesundheitskosten zu bestimmen, muss man zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen ist die erwünschte Verlagerung von medizinischen Leistungen unter Gesundheitssektoren zu berücksichtigen – z.B. vermehrte Spitex-Leistungen, um Kosten in Pflegeheimen zu senken. Ein solches überdurchschnittliches Wachstum wäre nicht, mindestens nicht zwangsläufig, mit Inneffizienzen verbunden.

Zum anderen lassen sich unterschiedliche Wachstumsraten in den Kantonen auch durch demografische Unterschiede erklären: Ein peripherer Kanton, der aufgrund der Abwanderung seiner jungen Bevölkerung besonders stark altert, wird eine höhere Wachstumsrate der Gesundheitskosten aufweisen als ein Universitätskanton, der mehr junge Einwohner anzieht. Diese Überlegungen unterstreichen die Komplexität der Übung.

Zu diesem Zweck stellte 2021 die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) Projektionen der Kostenentwicklung für die Jahre 2021 und 2022 vor, die auf den Ergebnissen der Jahre von 2003 bis 2020 basieren. Dabei berechnete die KOF das Wachstum der Pro-Kopf-Kosten nach Kostengruppen (Pflege, Physiotherapie, Medikamente, Krankenhausaufenthalte usw.).

Wie die Studienautoren selbst eingestehen, führen methodische Schwierigkeiten zu grossen Unsicherheiten bei den Ergebnissen. Für 2022 beispielsweise variieren die Schätzungen für «ambulante ärztliche Leistungen» um fünf Prozentpunkte (zwischen 0,3% und 5,6%), für physiotherapeutische Behandlungen oder den stationären Spitalbereich um jeweils zehn Prozentpunkte.

Die Spannbreite der Schätzungen ist nicht nur sehr gross, sondern die möglichen Werte können von sinkenden bis hin zu steigenden Kosten in vier von acht Bereichen reichen (Pflege, Physiotherapie, stationäre Spitalbereich und Medikamente).

Diese Ergebnisse sind umso überraschender, als sie in einem Konfidenzintervall von 90 Prozent angegeben werden. Das heisst, dass bei 90 Prozent der Ergebnisse der tatsächliche Wert innerhalb dieses Intervalls liegen wird. In der Statistik ist es jedoch üblich, 95-prozentige Vertrauensintervalle zu verwenden. Bei Anwendung eines solchen Intervalls wäre die sich daraus ergebende Bandbreite noch viel grösser.

Kantonale Schätzungen noch illusorischer 

Die KOF-Studie versucht ebenfalls, die Wachstumsrate der Kosten pro Versicherten in den einzelnen Kantonen abzuschätzen. Hier ist die Unsicherheit noch grösser als bei den Schätzungen nach Kostengruppen. In der Deutschschweiz variieren die Werte für den Kanton Uri von -3 bis +8 Prozent. In den Kantonen Nidwalden und Luzern beträgt die Bandbreite beinahe acht Prozentpunkte. Bei 21 der 26 Kantone ist sogar ein Kostenrückgang möglich.

Aufgrund der geschätzten Werte, die zwischen sinkenden und steigenden Kosten für eine Kostengruppe oder für einen Kanton schwanken, und der Tatsache, dass die KOF selbst auf die Unsicherheiten ihrer Methodik hinweist, wird es sehr schwierig sein, die Entwicklung der Kostenkorridore präzise vorherzusagen.

Wie soll die Bundesverwaltung auf Grundlage solcher Unsicherheiten ein Wachstumsziel festlegen, das «medizinisch und wirtschaftlich gerechtfertigt» ist? Jedes vorgeschriebene Ziel wäre willkürlich und ungefähr genauso präzise wie «ein Finger in der Luft».

Bürokratischer Blindflug

Dennoch beharrt das BAG und im weiteren Sinne auch der Bundesrat darauf, solche Kostenziele festzulegen, was dem Steuern eines Flugzeugs ohne Flugplan gleichkäme. Ein solcher Ansatz würde die Schaffung eines Bürokratiemonstrums erfordern, welches das Gesundheitssystem von oben herab plant, kontrolliert und sanktioniert.

Anstatt sich in einen endlosen bürokratisches Blindflug zu stürzen und sich in Verhandlungen mit den kantonalen Dachverbänden der Leistungserbringer zu verstricken, wäre der Bundesrat besser beraten, den Patienten und nicht die Bürokratie in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu stellen. Dazu muss er aber jene Rahmenbedingungen bereitstellen, die einen Wettbewerb fördern, der auf Qualität statt auf Kosten beruht.

Dieser Kommentar ist erstmals erschienen in den «Avenir Swiss News» 37/2022