Was macht die Cloud für Helvetia attraktiv?
Raphael Graber: Durch den technologischen Wandel haben wir die Herausforderung, dass wir uns fortlaufend an den neuen Bedürfnissen ausrichten möchten, da unsere Kunden entscheiden sollen, wie und über welche Kanäle sie mit uns kommunizieren möchten. Für Helvetia ist die Interaktion mit unseren Kunden ein zentraler Punkt.
Raphael Graber ist Lead Cloud Solutions bei Helvetia. In diesem Jahr plant er mit seinem Team den Data-Center-Exit. Ziel ist, dass 80 Prozent der Applikationen in der Cloud laufen – der Rest soll als Managed Services in der Schweiz und/oder in Deutschland bezogen werden.
Michael Hanisch ist Head of Technology für die DACH-Region bei Amazon Web Services (AWS). Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt er sich intensiv mit den Potenzialen des Cloud Computing. Vor seiner Tätigkeit bei AWS war Hanisch als Software-Architekt und Projektmanager in Beratungsprojekten in unterschiedlichen Branchen tätig.
Wo und wie kommt da die Cloud-Technologie ins Spiel?
Raphael Graber: Cloud-Technologien bieten uns die Möglichkeit, diesen neuen Bedürfnissen der Kunden gerecht zu werden. Wir wollen unseren Kunden moderne Lösungen zur Verfügung stellen. Dabei nutzen wir Technologie-Plattformen, welche durch die Anbieter fortlaufend weiterentwickelt werden. Weiter erlauben uns die Cloud-Services, unsere operativen Prozesse viel einfacher und schneller zu automatisieren. Basierend auf dem können wir unsere Applikationslandschaft fortlaufend standardisieren.
Wie sind Sie bei der Evaluation vorgegangen? Wie haben Sie aus der Longlist eine Shortlist und dann die Entscheidung getroffen?
Raphael Graber: Wir haben uns zuerst damit auseinandergesetzt, mit welcher Ambition wir Cloud-Technologien zukünftig nutzen möchten, und dies in Form einer Cloud-Strategie mit klaren Zielen ausgearbeitet. Basierend darauf haben wir anschliessend die erste Public-Cloud-Plattform evaluiert.
Dabei haben unsere Anforderungen rund um Reife und Erfahrung des Providers, Angebot an Standorten und Services sowie die Security- und Compliance-Aspekte die Auswahl bereits stark reduziert. Nach erfolgreicher Etablierung der ersten Public-Cloud-Plattform sind wir dann mit der Integration der zweiten Plattform gestartet, wie wir dies in der Strategie geplant hatten. Heute haben wir multiple Clouds im Einsatz und können somit anforderungsbasiert entscheiden, welche Services wir wo nutzen.
Zurich Insurance Group geht auch in die Cloud
Amazon Web Services (AWS) hat Ende Januar angekündigt, dass die Zurich Insurance Group ihre IT-Infrastruktur auf AWS umstellt. Die Zurich bestrebt damit, im Rahmen der weltweiten Digitalstrategie neue digitale Kundenerlebnisse zu schaffen und die Automatisierung in grossem Umfang voranzutreiben. Die strategische Zusammenarbeit beinhaltet den Transfer von 1'000 Applikationen zu AWS bis im Jahr 2025, inklusive Core Workloads der Versicherung und SAP Workloads. (pm/hzi/kbo)
Was kann man als Cloud-Unternehmen wie AWS Versicherungen anbieten?
Michael Hanisch: Grundsätzlich lässt sich in der Cloud durch einen sehr hohen Automatisierungsgrad, gepaart mit einem Pay-as-you-go-Modell, viel Flexibilität erreichen. Dies erlaubt eine viel schnellere Umsetzung von Projekten, sei es, um auf Herausforderungen am Markt zu reagieren oder um innovative Ideen mit kleinem Risiko in die Tat umzusetzen. Spezifisch für Versicherungskunden gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten. Eine, an der unsere Kunden besonders interessiert sind, ist die Einführung digitaler Kanäle, die zu mehr digitalen Interaktionen mit Versicherungsnehmern führen. Ein wichtiger Bereich ist die Umgestaltung von Call-Centern: Versicherer können diesen Kanal von einem reinem Support- beziehungsweise Transaktionskanal in einen Verkaufs- oder Wachstumskanal wandeln. Auch die Nutzung von Data Lakes und künstlicher Intelligenz/maschinellem Lernen (KI/ML) stösst auf grosses Interesse. Sobald sich die Daten im Data Lake befinden, sind sie ein zugängliches Ziel für KI/ML-Dienste. Zu den Anwendungsfällen gehören beispielsweise die Stimmungsanalyse in der Kommunikation mit Versicherungsnehmern, insbesondere während der Schadenbearbeitung, die Textextraktion aus Policen- und Schadenformularen sowie die visuelle Erkennung von Schäden.
Wie und wo werden die Daten bei AWS gelagert?
Michael Hanisch: Die Datenspeicherung erfolgt in der Infrastrukturregion, die der Kunde wählt. Wir haben acht Infrastrukturregionen in Europa, insgesamt 29 weltweit. Die Daten gehören einzig unseren Kunden, und nur diese entscheiden, an welchem Standort sie ihre Daten speichern möchten. Seit dem 9. November 2022 bieten wir unseren Kunden auch die Möglichkeit, ihre Daten lokal, also innerhalb Schweizer Grenzen, zu speichern und zu verarbeiten.
Zurück zu Helvetia – wie sieht es mit den Kosten-Nutzen-Aspekten aus?
Raphael Graber: Die Migration einer Applikation in die Cloud bietet Vorteile, diese müssen nicht immer nur monetäre sein. Wir haben zum Beispiel Systeme im Einsatz, welche saisonal bedingt Test- und Schulungsumgebungen benötigen. Diese lassen sich in der Cloud temporär aufbauen und anschliessend zeitnah wieder abbauen. Dadurch müssen keine Kapazitäten im Rechenzentrum vorgehalten werden für diese Spitzen. Dies spart Kosten und Energie und reduziert somit ebenfalls unsere CO2-Emissionen. Somit sind solche Aspekte neben finanziellen Aspekten ebenfalls wichtige Treiber unserer Cloud-Transformation.
Wie wurden zeitliche und finanzielle Vorgaben hier erreicht beziehungsweise eingehalten?
Raphael Graber: Wir konnten unsere Betriebskosten teilweise sehr stark reduzieren und gleichzeitig die Lösungen auf moderne Plattformen migrieren. Bei einer Migration von komplexeren Systemen gibt es bezüglich der Timeline immer Herausforderungen, aber wir fanden zusammen mit unseren Partnern immer Lösungen und konnten diese termingerecht umsetzen.
Wie typisch ist für AWS der Kunde Helvetia?
Michael Hanisch: Pauschal lässt sich das nicht sagen, denn jeder Kunde ist anders, beispielsweise wenn es um die vorhandene Applikationslandschaft, die Kultur oder Mitarbeiter geht. Es ist auch wichtig zu betonen, dass die erfolgreiche Umstellung auf die Cloud weniger an technischen Fragestellungen liegt, sondern mit Menschen und Unternehmenskultur zu tun hat.
Worauf kommt es bei einer Umstellung ganz zentral an?
Michael Hanisch: Das Führungsteam muss sich einig sein und sich wirklich dafür einsetzen, dass die Umstellung auf die Cloud erfolgt. Und es muss dem Rest des Unternehmens eine klare Richtung und Erwartungen vorgeben, damit alle auf derselben Seite stehen und auf dasselbe Ziel hinarbeiten. Ausserdem ist es sehr wichtig, dass die Mitarbeiter im Rahmen des gesamten Prozesses in Bezug auf die Cloud geschult werden und mit den Konzepten vertraut sind.
Welches sind bei Helvetia die weiteren Cloud-Pläne?
Raphael Graber: Aktuell sind wir dabei, unser Data-Center-Exit-Projekt umzusetzen und Ende 2023 unsere eigenen Data Center in der Schweiz zu schliessen. Der Erfolg in der Schweiz ermöglicht es, nun unsere Ländereinheiten ebenfalls auf dem Weg in die Cloud zu unterstützen. Daneben starten wir in der Schweiz nun die «Reise in der Cloud». Dabei geht es um die Optimierung von Applikationen und Services Richtung Cloud-Native-Anwendungen. Das kann eine Optimierung einer Applikation durch Replatforming oder Refactoring sein, damit diese anschliessend noch besser die Vorteile der Cloud nutzen kann. Daneben wollen wir ebenfalls vermehrt die innovativen Dienste der Cloud-Umgebungen für unsere Kunden nutzen, um ihnen die Interaktion mit uns so einfach und klar wie möglich zu gestalten.
An welchen weiteren Cloud-Angeboten arbeiten Sie bei AWS?
Michael Hanisch: Wir bleiben unserem Prinzip «Working Backwards» treu und werden weiterhin von unseren Kunden ausgehend innovieren und ihnen immer mehr Auswahlmöglichkeiten bieten. Ausserdem werden wir die Nutzung von AWS weiter vereinfachen, indem wir mehr Services auf der Grundlage spezifischer Anforderungen entwickeln. Beispiele für Investitionen sehen wir unter anderem im Bereich Serverless Computing oder KI/ML, aber auch vermehrt in Diensten, die wir speziell für einzelne Industrien wie die Gesundheits- oder eben die Finanzdienstleistungsbranche entwickeln. Es gibt auch einen Trend zu Low-Code-/No-Code-Entwicklung, die es Software-Entwicklern, Unternehmensanalysten und Geschäftsanwendern ermöglichen, ML-Modelle zu erstellen, um Vorhersagen auf der Grundlage ihrer eigenen Daten zu generieren, ohne Code entwickeln zu müssen oder ML-Kenntnisse zu benötigen.
Welche Erkenntnisse haben Sie bei Helvetia, die Sie teilen können?
Raphael Graber: Ein wichtiger Hinweis bezüglich der Cloud ist, dass man dies ganzheitlich als Unternehmen angehen sollte. Es ist kein reines IT-Thema. Idealerweise bindet man die Fachbereiche bereits zu Beginn mit ein. Dadurch kann man die ganze Organisation fortlaufend Schritt für Schritt befähigen, denn es ist eine Reise, bei der man ständig dazulernt. Wichtig ist ebenfalls das Cultural Change Management und die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeitenden. Dabei profitieren Mitarbeitende am meisten, wenn sie ebenfalls praktische Erfahrungen sammeln können. Das Top-Management sollte von Beginn an als Sponsor mit an Bord sein und Erkenntnisse und Erfahrungen sollten mit allen Beteiligten fortlaufend geteilt werden.
Und welche neuen Herausforderungen sehen Sie bei Helvetia?
Raphael Graber: Die Herausforderung besteht darin, das Know-how im Unternehmen halten zu können, da im Arbeitsmarkt solche Profile sehr gefragt sind. Dabei konkurrenziert man nicht nur mit Marktbegleitern, sondern ebenfalls mit den Cloud-Providern. Aber am Ende ist dies kein Grund, den Weg in die Cloud nicht zu bestreiten und die Vorteile von Cloud-Technologien einzusetzen.