Die Schweiz muss bei den Hinterlassenenrenten der AHV über die Bücher, und zwar tiefgreifend. Das ist die Quintessenz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom Dienstag. Der Entscheid kommt nicht überraschend, und auch inhaltlich kann man sich seiner Logik schwer entziehen. Der EGMR stört sich daran, dass die Schweiz Witwer gegenüber Witwen massiv benachteiligt.
Massive Benachteiligung aufgrund des Geschlechts
In der Schweiz verliert ein Witwer seine Rente, sobald sein jüngstes Kind volljährig wird. Demgegenüber erhält eine Witwe ihre Rente ein Leben lang. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt in dieser Ungleichbehandlung der Männer eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.
Verhandelt wurde in Strassburg der Fall eines Appenzeller Witwers, der wegen Geschlechterdiskriminierung geklagt hatte. Als Max Beelers jüngste Tochter volljährig wurde, strich ihm die Ausgleichskasse von Appenzell Ausserrhoden die Witwerrente. Wäre er eine Frau, wären die Zahlungen weiterlaufen. Und eine Frau bekommt auch dann eine Witwenrente, wenn sie gar keine Kinder hat.
Gegen diese Ungleichbehandlung klagte Beeler und berief sich dabei auf den Verfassungsgrundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Doch weder im Kanton noch auf Bundesebene fand er damit Gehör bei den Richterinnen und Richtern. Daher wandte er sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort entschieden die Richterinnen und Richter in der ersten Instanz bereits im Oktober 2020. Die Schweiz zog den Fall weiter.
In Strassburg entschied der Gerichtshof nun letztinstanzlich mit zwölf zu fünf Stimmen zugunsten des Witwers und rügte die ungleiche Behandlung. Die Schweizer Behörden hatten in Strassburg auf das in der Schweizer Gesellschaft noch übliche Gesellschaftsbild verwiesen, wonach Männer grundsätzlich als Haupternährer angesehen werden. Demnach werde ihnen zugetraut, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Bei Witwen sei dies nicht immer der Fall. Ihnen stehe daher lebenslänglich eine Witwenrente zu.
Renten-Nachzahlungen für Witwer zu erwarten
Die Strassburger Richterinnen und Richter verwiesen in ihrem Urteil auf den gesellschaftlichen Wandel und die heute grössere Rolle der Frau im Berufsleben.Daher verletze die Schweizer Regelung von Witwen- und Witwerrenten Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention und diskriminiere Männer.
Als Folge des letztinstanzlichen Strassburger Urteil sieht sich die Schweiz nun zum Handeln aufgefordert. Es gilt, dem Kläger Max Beeler – und allen anderen Männern, die gegen ihre Diskriminierung geklagt haben – die Witwerrenten nachzu zahlen. Erwartet werden Kostenfolgen in Millionenhöhe haben. Vor allem aber müssen Bundesrat und Parlament nun die AHV-Gesetzgebung reformieren und diese bei den Hinterbliebenenrenten diskriminierungsfrei gestalten. (awp/hzi/mig)