Der Anstieg der Lebenserwartung hat sich in den letzten zehn Jahren verlangsamt, doch die nächste Welle von Verbesserungen ist schon in Sicht, so ein Bericht von Swiss Re mit dem Titel The future of life expectancy: Forecasting long-term mortality improvement trends for insurance. Insbesondere dank Fortschritten bei der Erkennung und Behandlung von Krebserkrankungen kommt dem Bericht zufolge die nächste Welle von Verbesserungen auf die Gesellschaft zu. Künftige Verbesserungen erfordern Lösungen für altersbedingte Gesundheitsprobleme wie Alzheimer und neurodegenerative Erkrankungen, aber auch für Lebensstilfaktoren und den Zugang zu medizinischer Versorgung.
Paul Murray, CEO von L&H Reinsurance bei Swiss Re: «Während die Menschen davon träumen, dass die Lebenserwartung auf über 100 Jahre steigt, sind mittlerweile die Fortschritte in Gefahr, die im letzten Jahrhundert erzielt worden sind. Treibende Kraft für die nächste grosse Welle von Verbesserungen zur Steigerung der Lebenserwartung ist klar die medizinische Forschung. Gleichzeitig müssen wir uns als Einzelne weiterhin und verstärkt um eine gesunde Lebensweise bemühen, um gesund zu bleiben und länger zu leben. Als Gesellschaft müssen wir die Hindernisse für den Zugang zu medizinischer Versorgung abbauen.»
Verbesserungen zur Steigerung der Lebenserwartung treten meist in Wellen auf, nach grossen medizinischen Durchbrüchen oder im Zuge flächendeckender gesellschaftlicher Trends wie der rückläufigen Verbreitung des Rauchens. Im 20. Jahrhundert brachten neue Arzneimittel zur Senkung des Blutdrucks und des Cholesterinspiegels einen steilen Anstieg der weltweiten Lebenserwartung, von durchschnittlich 55 Jahren Ende der 1950er Jahre auf weit über 70 im Jahr 2020.
Faktoren wie Folgeerkrankungen von Fettleibigkeit, zunehmende Auswirkungen von Alzheimer und der ungleiche Zugang zu medizinischer Versorgung bremsen diesen Anstieg jedoch in vielen Teilen der Welt seit 2010. Dadurch hat die Lebenserwartung in den Industrieländern ein Plateau erreicht.
USA: Rückläufige Lebenserwartung
Die USA unterscheidet sich von anderen Industrieländern: Gemäss Zahlen von 2019 haben nur die sozioökonomisch obersten 10% der US-Bevölkerung bei der Geburt eine vergleichbare Lebenserwartung wie der OECD-Durchschnitt von rund 80 Jahren bei Männern und 84 Jahren bei Frauen. Für einen männlichen US-Bürger, der zu den sozioökonomisch untersten 10% gehört, liegt die Lebenserwartung mit rund 73 Jahren deutlich unter jener in der OECD mit 80 Jahren. Der US-Trend hängt mit dem ungleichen Zugang zu medizinischer Versorgung zusammen, der eine Folge der wachsenden sozioökonomischen Ungleichheit ist. Schätzungsweise 70% der Bevölkerung sind von Fettleibigkeit betroffen, wodurch Krankheiten wie Typ-2-Diabetes auf dem Vormarsch sind. Darüber hinaus wirken sich opioidbedingte Todesfälle auf die Lebenserwartung aus, deren Anzahl hat sich seit 1999 verachtfacht.
Grossbritannien: Stagnierender Anstieg mangels medizinischer Durchbrüche
Zwischen 1968 und 2010 war der Anstieg der Lebenserwartung in Grossbritannien zu etwa 70% auf den starken Rückgang der Todesfälle durch Kreislauferkrankungen zurückzuführen. Dadurch kletterte die Lebenserwartung von 71 auf 80 Jahre. Seit 2010 kam jedoch nur ein weiteres Jahr hinzu, weil mangelnde Fortschritte im Hinblick auf Krebserkrankungen und die zunehmenden Auswirkungen von Demenz- und Atemwegserkrankungen den Anstieg der Lebenserwartung bremsen.
Japan und Schweiz: Spitzenreiter in Sachen Langlebigkeit
Im Kreis der Industrieländer haben Japan und die Schweiz mit etwa 84 Jahren eine der höchsten Lebenserwartungen bei Geburt, verglichen mit etwa 70 Jahren im Jahr 1960. In beiden Ländern war der Anstieg auf eine Verbesserung der Herz-Kreislauf-Gesundheit zurückzuführen.
Als Schlüssel zum Erfolg haben sich Lebensstilfaktoren und der Zugang zu einem gut finanzierten Gesundheitswesen erwiesen. Bemerkenswert ist, wie Japan die Zahl der schlaganfallbedingten Todesfälle zwischen 1980 und 2012 um über 80% senken konnte. Dies gelang dank relativ einfacher Massnahmen, zum Beispiel der Empfehlung einer salzärmeren Ernährung.
Die nächste Welle von Verbesserungen der Lebenserwartung
Das grösste Potenzial für eine Steigerung der Lebenserwartung besteht dem Bericht von Swiss Re zufolge bei der Erkennung und Behandlung von Krebserkrankungen. Flüssigbiopsien beispielsweise ermöglichen eine wesentlich frühere Erkennung bestimmter Krebsarten, und mit der Ablösung von Standardtherapien durch personalisierte Präzisionsmedikamente dürfte auch die Überlebenswahrscheinlichkeit steigen. Anlass zur Hoffnung geben zudem mRNA-Impfstoffe, wie sie während der COVID-19-Pandemie erfolgreich zum Einsatz kamen.
Die Politik kann dazu beitragen, dass mehr Menschen die Möglichkeiten zur Krebsvorsorge nutzen. So hat sich in Grossbritannien gezeigt, dass die hohe Akzeptanz der Vorsorgeuntersuchungen die Überlebenschancen um weit mehr als 50% verbessert hat.
Bei der Verlängerung der Lebensdauer kommt es massgeblich auf die Bekämpfung von Krankheiten an, die ältere Menschen betreffen, vor allem Alzheimer und andere Demenzerkrankungen. In Grossbritannien etwa soll sich die Zahl der Alzheimerkrankten bis 2040 auf über 1,6 Millionen erhöhen und sich damit fast verdoppeln. Bisher versprechen nur wenige Therapien mehr als eine Linderung der Symptome; die medizinischen Entwicklungen in diesem Bereich kommen relativ langsam voran, und bei manchen Behandlungen, die entwickelt wurden, sind die Ergebnisse umstritten.
Weitreichende Auswirkungen auf die Lebenserwartung könnten von neuen Technologien ausgehen, etwa von künstlicher Intelligenz in der medizinischen Forschung und als Unterstützung bei Behandlungsentscheidungen oder von Wearables und Apps für die Erfassung von Daten zu Gesundheit und Wohlbefinden.
Natalie Kelly, Head of Global Underwriting, Claims & R&D bei Swiss Re: «Medizinische Technologie, Veränderungen der Lebensweise und der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung werden die nächste Welle von Verbesserungen zur Steigerung der Lebenserwartung vorantreiben. Dabei ist sowohl der öffentliche wie auch der private Sektor gefragt. Wir als Versicherungswirtschaft müssen diese komplexen Faktoren verstehen, damit wir weiterhin in der Lage sind, unsere Kundinnen und Kunden abzusichern, wenn sie am meisten darauf angewiesen sind, und die Menschen dazu anzuhalten, sich für eine Lebensweise zu entscheiden, mit der sie länger und gesünder leben.» (pm/hzi/kbo)
Dieser Artikel wurde erstmals am 24.05.2023 publiziert.