Die Pensionskassen haben von einer guten Börsenentwicklung profitiert. Zu Beginn des Jahres bewegte sich der Deckungsgrad auf einem Rekordniveau. Danach ging es abwärts. Wie beurteilen Sie heute den Gesundheitszustand der 2. Säule?
Kerstin Windhövel: Viele Pensionskassen haben in den guten Börsenjahren ihre Hausaufgaben gemacht. Sie haben die finanziellen Mittel genutzt, um die Struktur und die Basis auf der sie stehen, markant zu verbessern. Auch wenn jetzt die Börsenentwicklung ungünstig ist, bin ich davon überzeugt, dass die meisten Vorsorgeeinrichtungen besser dastehen als nach der Finanzkrise von 2008.
«Ich bin keine Hellseherin, aber es ist durchaus möglich, dass die Börsenkurse zum Jahresschluss nochmals tiefer liegen.»Kerstin Windhövel
Könnten weitere Verluste an den Aktienmärkten die Pensionskassen nicht in eine Schieflage bringen, die zu Sanierungen zwingt?
Was den Pensionskassen derzeit Mühe bereitet: Alle ihre grossen Assetklassen gehen gleichzeitig nach unten. Entsprechend ist die Performance bei allen Kassen negativ. Ich bin keine Hellseherin, aber es ist durchaus möglich, dass die Börsenkurse zum Jahresschluss nochmals tiefer liegen. Aber ein solches Auf und Ab gehört nun einmal zu einem langfristigen Anlageprozess.
Einzelne Vorsorgeeinrichtungen können durchaus in eine Unterdeckung geraten. Deshalb sollte man aber nicht in Panik verfallen. Sofern die Eckdaten, wie etwa der technische Zinssatz oder die Vorausrechnung der Sterblichkeit, korrekt erfasst wurden, sehe ich keine übermässigen Probleme.
Aber gehen die Vorsorgeeinrichtungen derzeit bei der Anlagestrategie nicht ein zu hohes Risiko ein, um die Rendite zu steigern?
Das ist ein Balanceakt. Fährt man wenig Risiko, dann erzielt man kaum Rendite. Wird ein hohes Risiko eingegangen, ist das in guten Börsenjahren positiv, verursacht aber bei einer Baisse entsprechende Verluste. Momentan sind alle Kassen, ob nun mit hohen Obligationen- oder Aktienbeständen, von der Talfahrt an den Kapitalmärkten betroffen.
Haben die Stiftungsrätinnen und Stiftungsräte die Risiken im Griff?
Sofern man die Risiken richtig überwacht und eine klare Strategie verfolgt, sollte das Aufsichtsgremium den Durchblick haben. Bei manchen Kassen funktioniert das sehr gut. Leider ist das aber nicht bei allen Pensionskassen der Fall.
Die Vorsorgeeinrichtungen müssen über ein internes Kontrollsystem (IKS) verfügen. Genügt das nicht?
Nein. Das IKS ist immer eine retrospektive Betrachtung. Es wird auf das vergangene Jahr oder die vergangene Periode zurückgeschaut. Im IKS wird abgehakt, ob zum Beispiel das Vieraugenprinzip umgesetzt wurde oder die dazu berechtigten Leute einen Vertrag unterschrieben haben. Gibt es irgendwo ein Nein, verursacht das Probleme und einzelne Prozesse müssen verbessert werden.
Ein Risiko-Management geht aber sehr viel weiter. Dieses würde den Vertrag selbst analysieren und fragen, ob dieser vorteilhaft oder unvorteilhaft für die Vorsorgeeinrichtung ist. Risikomanagement ist ein strategisches Führungsinstrument, das in die Zukunft schaut.
Sie plädieren für ein integriertes Risiko-Management. Was sind die Vorteile?
Dieses Führungsinstrument hilft, die Pensionskasse so auszurichten, dass sie ihre Risiken genau kennen und die damit willentlich eingegangenen Risiken auch innerhalb der eigen festgelegten Risikotoleranz liegen. Mit anderen Worten: Was die Institution verkraften kann und will, wird vollzogen, aber nicht mehr.
Wo liegen bei den Pensionskassen die grössten Schwachstellen?
Oftmals wird der Unterschied zwischen Risiko-Management und IKS nicht erkannt. Es geht nicht darum, irgendwelche IKS-Kriterien in ein Excel-Tool zu integrieren und dort dann Häkchen zu setzen. Vielmehr muss das Führungsgremium einer Vorsorgeeinrichtung ein gemeinsames Verständnis für jene Risiken entwickeln, welche von der Institution als Ganzes eingegangen werden. Im Klartext heisst das: Bis zur Risiko-Toleranzgrenze sind wir bereit die Risiken zu tragen, nicht jedoch darüber hinaus. Liegen sie über der strategisch festgelegten Grenze, so müssen Massnahmen zur Risikoreduktion ergriffen werden.
Sorgt die rasch fortschreitende Digitalisierung nicht dafür, dass sich die Risiken besser identifizieren, bewerten und kontrollieren lassen?
Ich würde einzig unterschreiben, dass sich mit einem digitalen Tool die Risiken einfacher überwachen lassen. Aber wenn der Stiftungsrat und die Geschäftsleitung keine Strategie hinsichtlich ihrer Risiken haben, reicht das alleine sicherlich nicht aus.
Künstliche Intelligenz allein genügt also nicht?
Nein, da braucht es glücklicherweise auch noch die Menschen.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Zahl der Pensionskassen auf noch knapp 1500 fast halbiert. Geht dieser Konzentrationsprozess weiter?
Ja, ich erwarte eine weitere Abnahme. Ob das ähnlich wie bisher oder gar sprunghaft geschieht, hängt vom Regulator ab. Wenn unerwartet strengere Vorschriften, zum Beispiel in der Berichterstattung eingeführt werden, die vor allem kleinere Kassen belasten, dürfte sich der Schrumpfungsprozess allenfalls sogar noch beschleunigen.
Haben wir am Ende dieses Jahrzehnt nur noch 500 Vorsorgeeinrichtungen, wie das heute in Holland bereits der Fall ist?
Auf das Niveau von Holland dürften wir es in acht Jahren vermutlich nicht schaffen, aber lediglich 1000 Pensionskassen kann ich mir dannzumal schon vorstellen.
Bereits rund drei Viertel der aktiv Versicherten sind in einer Sammel- oder Gemeinschaftsstiftung. Die Oberaufsichtskommission der beruflichen Vorsorge (OAK) ortet bei diesen Pensionskassen grosse Herausforderungen im Bereich Governance und finanzielle Stabilität. Braucht es schärfere Regulierungen?
Nein. Wir haben strenge Regulierungen und die Compliance ist fest im Gesetz verankert. Wer sich daran hält, braucht in meinen Augen heute keine zusätzlichen Auflagen. Eine Pensionskasse ist nach wie vor kein Versicherungskonzern.
Dann müsste man also eine grosse Pensionskasse nicht ähnlich regulieren wie eine Versicherungsgesellschaft?
Das sehe ich derzeit nicht. Entweder man setzt alle Kassen unter eine strengere Aufsicht oder keine. Wo sollte man die Grenze ziehen?
Sie haben mit der Kalaidos-Fachhochschule einen Pensionskassen-Selbsttest entwickelt. Was soll damit erreicht werden?
Über einen solchen Selbsttest kann der Geschäftsführer eines KMU nebst dem Broker eine Zweitmeinung einholen. Den klassisch arbeitenden Brokern wird immer wieder vorgeworfen, sie würden ihre Kunden dorthin vermitteln, wo es die höchste Courtage gibt. Bei unserem Selbsttest sind auch die Pensionskassen erfasst, welche den Brokern keine solchen Entgelte zukommen lassen.
Viele KMU klagen aber, dass sie gar nicht mehr bei einer Vollversicherung unterkommen?
Eine Vollversicherung ist in meinen Augen auch gar nicht attraktiv. Dafür, dass das angeschlossene Unternehmen keinerlei Risiko hinsichtlich Sanierung eingeht, muss es bei den Kosten einen hohen Preis zahlen und die Versicherten erhalten später eine vergleichsweise niedrige Rente. Mit einer soliden teilautonomen Lösung fuhr man bislang wesentlich besser.
«Das Rentensystem ist in der Schweiz mit den drei Pfeilern sehr gut aufgebaut.»Kerstin Windhövel
Fast sämtliche Reformprojekte in der Altersvorsorge wurden jüngst abgelehnt oder sind blockiert. Bedeutet dies auch, dass der umlagefinanzierten AHV im Vergleich zur 2. Säule nach dem Kapitaldeckungsverfahren bei den anhaltend tiefen Zinsen künftig eine höhere Bedeutung zukommt?
Das Rentensystem ist in der Schweiz mit den drei Pfeilern sehr gut aufgebaut. Als Deutsche und jetzt Schweizer Wahlbeheimatete kenne ich ein reines Umlageverfahren von früher sehr gut. Zu einem solchen System drängt es mich nicht zurück. In Verbindung mit der steigenden Lebenserwartung ist ein Umlagesystem für mich kein brauchbares Vorsorgesystem. Warum wurden die angepeilten Reformen abgelehnt? Weil man ständig versucht, eine Umlagekomponente in ein kapitalgedecktes System einzubauen und das passt nicht.
An welchen Stellschrauben muss man drehen, um die berufliche Vorsorge auf einen nachhaltigen Pfad zu bringen?
Die wichtigste Stellschraube ist der im Obligatorium viel zu hohe Umwandlungssatz von 6,8 Prozent und der Koordinationsabzug, der Frauen in Teilzeitpositionen schlechter stellt. Bei allen anderen Parameter sehe ich kein strukturelles Problem. Im typischen «Long Run» einer Pensionskasse mit einem Zeithorizont von über 60 Jahren läuft das gut.
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Die Vorsorgeexpertin
Kerstin Windhövel (50) ist Professorin und Leiterin des Kompetenzzentrums Vorsorge am Schweizerischen Institut für Finanzausbildung der Kalaidos Fachhochschule für Wirtschaft Zürich. Nach dem Doktorat in Volkswirtschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg war sie bei der Prognos in Basel Projektleiterin für das Themenfeld «Soziale Sicherung». Anschliessend war sie Professorin für Altersvorsorge an der Berner Fachhochschule und der Hochschule für Wirtschaft Fribourg. Daneben wirkt die Ökonomin als Consultant für die strategische Beratung der Vorsorgeeinrichtungen.
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