Jede Studie, die neue Medikamente beinhaltet, muss über eine sogenannte Probandenversicherung abgesichert sein. Vor Corona betrug die durchschnittliche Zeit, die ein Medikament vom Konzept bis zur Zulassung für den Einsatz bei Patienten benötigte, ungefähr zwölf Jahre. Im aktuellen Kontext und vor dem Hintergrund, dass Wissenschafter weltweit mit Hochdruck nach einem Mittel gegen Covid-19 suchen, werden Abstriche bei der Einhaltung bewährter Praktiken bei klinischen Studien gemacht. Aus diesen Abstrichen ergeben sich jedoch neue Risiken. 

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Schnelles Tempo bei der Entwicklung von Impfstoffen

Aktuell befinden sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehrere Impfstoffkandidaten in der klinischen Prüfung und über 100 in der präklinischen Phase. Neben diesem präventiven Ansatz zur Eindämmung von Covid-19 werden derzeit auch viele Arzneimittel auf ihre Wirksamkeit getestet. Am 5. August liefen weltweit 2906 Studien, in denen versucht wurde, das Fortschreiten von Covid-19 durch den Eingriff an verschiedenen Stellen des biochemischen Verlaufs zu stoppen. Geprüft werden die unterschiedlichsten Ansätze, von antiviralen Therapien über Steroide bis hin zur Transfusion von Blutplasma. «So ziemlich alles, was für eine Behandlung von Covid-19 infrage kommt, wird derzeit geprüft, von Diabetesmitteln bis hin zu Antimykotika», so Alex Forrest, Head of Life Sciences – Overseas General bei Chubb. Dabei würden die Ziele in klinischen Studien weniger sorgfältig ausgewählt als sonst. 

Autor:
Ulrich Stalder, Underwriting Manager Life Science, Chubb Versicherungen Schweiz AG.

Verschmelzung von Forschung und Behandlung

Während einer Pandemie besteht zudem die Gefahr, dass die Grenzen zwischen dem normalen klinischen Umfeld und dem Forschungsumfeld verschmelzen und sich überschneiden können, man geht sozusagen direkt von der Forschung zur Behandlung. Dies geschieht selten in der normalen Praxis klinischer Studien, wo eine klare Trennung zwischen Studien, «Compassionate Use» und der klinischen Praxis besteht. «Das Hauptziel klinischer Studien ist die Forschung und die Bestätigung von Hypothesen. Darauf sollte weiterhin der Fokus liegen. Es wäre unklug, Medikamente an Probanden zu testen, die sonst ausgeschlossen werden könnten. Es ist zu befürchten, dass die Studien weit über den benötigten Umfang ausgedehnt werden», sagt Forrest.

Ein weiteres Muster, das sich während der Pandemie bei klinischen Studien zeigt, ist die Änderung der Endpunkte, also der als primäre Erfolgskriterien festgelegten Faktoren. Die Studie über das antivirale Medikament Remdesivir sollte beispielsweise eine geringere Mortalität nachweisen, zeigte aber, dass die Menschen, die das Medikament einnahmen, weniger Zeit an den Beatmungsgeräten verbringen mussten. «Eine Änderung der primären Endpunkte sollte eher die Ausnahme bleiben», meint Forrest. «Andernfalls besteht das Risiko von Verzerrungen, die zu fehlgeleiteten Forschungsarbeiten oder zur suboptimalen Patientenversorgung führen können.» Manchmal gibt es zwar gerechtfertigte Gründe für eine Änderung, späte Änderungen von Endpunkten bergen jedoch die Gefahr, dass ein Medikament als erfolgreich dargestellt wird, obwohl vielleicht eine bessere therapeutische Option besteht, die noch nicht entdeckt wurde.

Falsche Wahrnehmung von Forschungsergebnissen

Diese Risiken und Schwierigkeiten im Forschungsprozess werden durch die immense öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt. Schliesslich wartet die ganze Welt auf Fortschritte in der Impfstoff- oder Medikamentenentwicklung. Es ist zurzeit nicht ungewöhnlich, dass Forschungsergebnisse veröffentlicht werden, bevor sie von anderen Fachkollegen begutachtet wurden. Früher wurden diese Publikationen nur von Spezialisten gelesen. Jetzt sind Forschungsarbeiten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, bevor sie von anderen Wissenschaftern überprüft wurden. Dies lässt die Ergebnisse relevanter erscheinen, als sie es möglicherweise tatsächlich sind. 

Ein Beispiel für die Auswirkungen, die dies in der Praxis haben kann, ist die Hydroxychloroquin-Studie der WHO, die aufgrund der Veröffentlichung eines Preprints in einer führenden medizinischen Zeitschrift gestoppt wurde. Dieser wurde inzwischen zurückgezogen, nachdem sich die Daten als unzuverlässig erwiesen hatten. «Das Ziel der Wissenschaftsgemeinschaft ist es, wichtige Informationen zügig zu verbreiten und gleichzeitig die Integrität der Forschung zu wahren. Wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass plötzlich viele Veröffentlichungen zurückgezogen werden, könnte dies das Vertrauen in die Integrität der Wissenschaft untergraben», erläutert Forrest. 

Verwendung von Medikamenten ausserhalb ihrer Indikation

In der aktuellen Hektik des Forschungsbetriebs müssen sich Produkteigentümer, deren bestehende Medikamente von Dritten auf ihre Wirksamkeit gegen Covid-19 getestet werden könnten, ihrer Rolle bewusst sein. «Unternehmen müssen vorsichtig sein, wenn sie ihre Medikamente an Ärzte oder die Öffentlichkeit vermarkten. Sie sollten sich über die Marktentwicklungen auf dem Laufenden halten und genau verfolgen, was mit ihren Produkten geschieht, um einen unerwünschten Einsatz zu unterbinden», so Forrest. Einige Hersteller gehen hier proaktiv vor. «Wir beobachten viele Fälle im Zusammenhang mit Covid-19, in denen sich Hersteller an die Food and Drug Administration in den USA wenden und davor warnen, ihre Produkte ausserhalb der genehmigten Indikation (Off-Label-Anwendung) oder nicht wie vorgesehen zu verwenden», fügt Renate Pochert, Senior Risk Engineer bei Chubb, hinzu. «Sie versuchen, sich zu schützen.» Beschleunigte Zulassungsverfahren bergen auch direkte Risiken. «Wenn Medikamente und Impfstoffe im Schnellverfahren entwickelt werden, besteht das Risiko, dass sie mit unbekannten Nebenwirkungen verbunden sind, die sich erst in fünf oder zehn Jahren zeigen», führt Karishma Paroha, Senior Solicitor and Barrister bei Kennedys, aus.

Trotz einer gewissen regulatorischen Flexibilität sollten Unternehmen keine Nachsicht erwarten, falls Studien oder Arzneimittel gegen Covid-19 die Patientensicherheit in Gefahr bringen. «Die Produkthaftung gilt auch bei Covid-19», erklärt Paroha. «In der EU bietet die Tatsache, dass ein Produkt den geltenden Vorschriften entsprach, den Herstellern keinen Schutz vor Haftung. Selbst wenn neue Covid-19-Medikamente den Vorschriften entsprechen, einschliesslich derer, die aufgrund der Pandemie gelockert wurden, sind die Hersteller nicht unbedingt vor Haftungsansprüchen geschützt.»

Zwar gibt es beschleunigte Zulassungsverfahren und regulatorische Lockerungen, dennoch muss die Patientensicherheit sichergestellt werden. Auch wenn die Welt mit einer ernsten Gesundheitskrise konfrontiert ist, so führen die eingegangenen Kompromisse doch auf lange Sicht zu Risiken und möglichen Haftungsansprüchen, die ein angemessenes Risikomanagement erfordern.