Frau Pulli, was bedeutet Sicherheit für Sie?

Sicherheit heisst für mich, mich darauf verlassen zu können, dass mir nichts Negatives oder Gewalttätiges zustösst und dass ich meine Entscheide ohne Druck, Nötigung oder Gewaltanwendung gegenüber meiner Person treffen kann.

Und was bedeutet Sicherheit für ein Land wie die Schweiz?

Eigentlich genau das Gleiche in grösserer Dimension. Eine unserer konstanten sicherheitspolitischen Zielsetzungen ist es, dass die Schweiz ihre Entscheide frei fällen kann, ohne durch Androhung oder Anwendung von Gewalt von aussen, in welcher Form auch immer, genötigt zu werden. 

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Welche Rolle spielen Sie und Ihr Team dabei? Oder anders gefragt: Was ist ihre Aufgabe?

Bei unserer Arbeit stehen Analyse, Prävention, Abwehr und Bewältigung von Bedrohungen und Gefahren strategischen Ausmasses im Fokus. Unsere Kernaufgabe für die Sicherheitspolitik ist es, Grundlagen zu erarbeiten für die Ausrichtung der sicherheitspolitischen Instrumente und Mittel von Bund und Kantonen, damit sie die Schweiz im Verbund wirksam schützen. Dabei können wir Anpassungen vorschlagen. 

Sind Sie also eine Art Denkfabrik?

Nein, wir sind kein Think-Tank. Wir machen uns zwar auch Überlegungen darüber, wie die Welt morgen aussieht, sind aber eher wie ein Stab für die Chefin VBS, die beim Bund die Federführung für die Sicherheitspolitik der Schweiz hat. Unsere Arbeit ist sehr konkret, wir liefern die Grundlagen, damit die Chefin VBS und der Bundesrat Entscheide für die Weiterentwicklung der Sicherheitspolitik fällen können. 

Können Sie das etwas genauer erklären?

Die Erarbeitung von Grundlagen beginnt damit, dass die Spezialistinnen und Spezialisten des Nachrichtendienstes die Bedrohungslage analysieren. In Diskussionen tauschen wir unsere Einschätzungen aus, auch über die Folgen für die internationale Zusammenarbeit. Dabei antizipieren wir, welchen Einfluss die Entwicklungen auf uns und andere Staaten haben könnten und welche Entscheide sich aufdrängen, damit die Schweiz besser aufgestellt ist.

Arbeiten Sie dazu verschiedene Szenarien aus?

Nein, wir arbeiten sehr selten mit konkreten Szenarien und machen auch keine detaillierten Prognosen. 

Warum nicht?

Unter anderem haben Szenarien als erfundene Geschichten den Nachteil, dass sie über die Wahrscheinlichkeit des Eintretens nichts aussagen und andere Regierungen und Länder verärgern könnten, obwohl sie fiktiv sind. Für Übungen braucht es sie natürlich.

Welche Werkzeuge verwenden Sie stattdessen?

Wir machen unsere beste Einschätzung, wie sich die Sicherheitslage für die Schweiz entwickeln dürfte, basierend auf vielen Quellen. Im sicherheitspolitischen Bericht des Bundesrats zeigen wir die internationalen Tendenzen auf, was in den vergangenen drei bis fünf Jahren geschehen ist und mit welchen Entwicklungen zu rechnen ist. Wir ordnen dann ein, was das für die Schweiz bedeutet und welche Schlussfolgerungen und Anpassungen sich aufdrängen, zum Beispiel für die Armee. 

Welchen Einfluss hat aktuell die Krise in der Ukraine?

Wir sehen heute den konkreten Einsatz der ganzen Palette der hybriden Kriegsführung, von Desinformation und Cyberangriffen bis hin zu Sabotage und bewaffnetem Angriff. Unsere Aufgabe ist es, von den Beobachtungen abzuleiten, wie ein ausgeweiteter oder nächster Konflikt aussehen könnte und wie die Schweiz sich aufstellen muss. 

Das tönt nach kontinuierlichem Lernprozess und hoher Flexibilität. Zwei Faktoren für den erfolgreichen Umgang mit Risiken und Gefahren?

Ja, und zwar auf zwei Ebenen: auf der analytischen und der organisationalen. Wir haben einen langfristigen Fokus und betrachten verschiedene Bedrohungen und Gefahren parallel. Dies, weil wir aus Erfahrung wissen, dass neuartige Bedrohungen bisherige nicht verdrängen, sondern immer wieder auftauchen und sich auch vermengen können. Aufgrund technologischer Entwicklungen kommen immer wieder neue Formen dazu. 

Was bedeutet es auf der organisationalen Ebene?

Wenn es darum geht, reale, eingetretene Ereignisse oder Krisen zu bewältigen, müssen wir sehr agil sein. Wir müssen klare und eingespielte Prozesse haben. Hingegen ist es nicht sinnvoll, im Falle einer Krise ein neues Konzept aus der Schublade mit anderen Abläufen und Zuständigkeiten zu nehmen. Das führt garantiert zu einem Chaos.

In einer Krise braucht es Kontinuität bei den Unterstützungsleistungen für Linienstellen oder Krisenstäbe, die Abläufe muss man unter Umständen straffen, vereinfachen oder beschleunigen. Es ist wichtiger, schnell zu entscheiden, als zu zögern. Dies, auch wenn die Informationslage unvollständig ist – lieber ein falscher Entscheid, den man noch einmal korrigiert, als Ungewissheit und Unsicherheit. Ebenso wichtig ist der Einbezug von Fachwissen – es können nur Leute richtig entscheiden, die von der Sache etwas verstehen.

Um zu entscheiden, muss jemand Verantwortung übernehmen. Kann das aufgrund der langen Zeit ohne grosse Krisen überhaupt noch jemand?

Ich glaube nicht, dass wir in der Schweiz nicht in der Lage sind, rasch Entscheide zu fällen, selbst bei gestiegenem Tempo von Entwicklungen. Aufgrund der grösseren Aufmerksamkeit durch Social Media oder aufgrund des Öffentlichkeitsgesetzes sind wir zwar stärker unter kritischer Beobachtung, aber auch lernfähig und werden besser. 

Besser ja, aber nach wie vor langsam …

Eine gewisse Hürde für rasche Entscheide, aber auch eine Chance stellt unser departementales Regierungssystem dar. Solange man dieses System nicht ändern will, müssen wir mit sieben starken Verwaltungen leben und zweckmässige Entscheidungsmechanismen innerhalb des Systems vorsehen. Starke Leitfiguren sind wir nicht gewohnt, denn die Schweiz kennt kein Premierministeramt und auch keine Bundespräsidentschaft mit besonderen Entscheidungskompetenzen.

Das Krisenmanagement kann man nicht einfach an Krisenmanagement-Profis delegieren; es braucht den Einbezug von Fachwissen aus jenem Departement, das inhaltlich für das Thema zuständig ist, und es braucht politische Entscheide.

Hat das geklappt?

Zugegeben, es gibt noch Optimierungsbedarf. Daher haben die Bundeskanzlei und das VBS bei der Auswertung des Krisenmanagements während der Pandemie den Auftrag erhalten, zu analysieren und dem Bundesrat Vorschläge zu unterbreiten, inwiefern wir die Strukturen im Krisenmanagement verbessern könnten. 

Gehört Risikomanagement eigentlich auch zu Ihrer Arbeit?

Nur auf konzeptioneller Stufe: Wir erarbeiten Grundlagen für die Sicherheitspolitik der Schweiz, wozu auch das Risikomanagement gezählt wird. In erster Linie haben wir die machtpolitischen Bedrohungen auf dem Radar und müssen dazu beitragen, dass unser Land vor diesen bestmöglich geschützt wird. Dazu gehören auch Naturkatastrophen und Notlagen.

Das Risikomanagement des Bundes ist etwas anders. Denn bei diesem geht es nicht um die Frage, was die Sicherheit der Schweiz gefährden kann, sondern um Ereignisse oder Unterlassungen, die das Funktionieren der Bundesverwaltung empfindlich stören könnten, beispielsweise die Zerstörung von technischen Anlagen oder Ausfall von Schlüsselpersonen. Im Risikomanagement des Bundes überlegt man sich, was die Aufgabenerfüllung von z. B. Polizei, Armee oder Grenzsicherheit plötzlich infrage stellen könnte, und wie man solche Risiken vermeidet oder vermindert. 

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Ist es nicht beängstigend, sich täglich mit Gefahren, Konflikten und der Zukunft auseinanderzusetzen?

Ab und zu ist es tatsächlich etwas erdrückend, gerade wenn man an den Krieg in der Ukraine denkt. Doch weil ich weiss, dass ich mit meiner Arbeit etwas für die Sicherheit unseres Landes und der Bevölkerung tun kann, ist es eben auch sehr motivierend. Sorge bereitet mir höchstens, dass unser Team irgendetwas Relevantes übersehen könnte.

 

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