Wo steht die Versicherungswelt beim Einsatz von künstlicher Intelligenz?
Lisa Bechtold: Da stehen wir relativ am Anfang. KI hat ein grosses Potenzial zusätzlicher Wertschöpfung für unsere Kunden. Für Fachleute gibt es keinen Zweifel, dass KI auch in der Versicherungsbranche in den kommenden Jahren klar an Bedeutung gewinnen und den durch die Digitalisierung vorangetriebenen Paradigmenwechsel beschleunigen wird.
Wie sieht dieser Paradigmenwechsel aus?
Früher wollte man als Versicherer im Schwerpunkt Risiken verstehen, um dann die zu versichernden Güter zu schützen. Heute lassen sich Risiken mit intelligenten Analysetools immer präziser vorhersagen; Versicherer können sich also mehr auf den Schutzaspekt, die Schadenprävention, konzentrieren.
Wir nutzen nur KI-Systeme, die wir verstehen und bei denen die Vorteile für unsere Kunden klar im Vordergrund stehen.
Lisa Bechtold
Wo positioniert sich die Zurich beim Einsatz von KI?
Zurich investiert viel in künstliche Intelligenz, um unsere Kundenorientierung und unser Leistungsportfolio zu optimieren. Gleichzeitig gehen wir keine unnötigen Risiken ein. Sicherheit und die Wahrung des Kundenvertrauens stehen an vorderster Stelle. Wir nutzen nur KI-Systeme, die wir verstehen und bei denen die Vorteile für unsere Kunden klar im Vordergrund stehen. Wir gehören zum Beispiel zu den wenigen Versicherern, die bereits ein internes Regelwerk für den verantwortungsbewussten und werteorientierten Einsatz von KI-Systemen entwickelt haben.
Was sind konkrete KI-Anwendungen bei Zurich?
Bei der Zurich treiben wir in verschiedenen Bereichen der Wertschöpfungskette den Einsatz von KI voran, beispielsweise in der Produktentwicklung, im Marketing, im besseren Kundenverständnis, im Risiko-Assessment und der Prognose, aber auch in der Automatisierung der Schadensbearbeitung und anderer Prozesse.
Durch den Einsatz von KI wollen wir einen Mehrwert für unsere Kunden generieren. Konkret sehen wir Potenzial in folgenden Bereichen:
- Operative Effizienzsteigerungen durch Optimierung bzw. Automatisierung interner Prozesse
- Verbessertes Risiko-Assessment und bessere Prognosemöglichkeiten, beispielsweise durch KI-basierte Modelle, Telematics und Sensoren
- Besseres Verständnis der Kundenbedürfnisse (Mehrwert durch «Up- bzw. Cross-Selling»)
- Entwicklung neuer Produkte dank neuer Datenquellen und geeigneter Vertriebskanäle (z.B. Flight Delay Insurance).
Profil:
Global Lead AI Assurance & Data Governance
Seit 2021 ist Dr. Lisa Bechtold als Global Lead AI Assurance & Data Governance innerhalb von Zurich’s globaler Data & Business Intelligence Funktion zuständig für die konzernweite Implementierung von Standards und Assurance-Prozessen im Bereich Data Governance sowie künstlicher Intelligenz. Sie repräsentiert Zurich im internationalen Public Policy Dialog im Schnittfeld der Bereiche Data Governance, Datenschutz sowie künstlicher Intelligenz unter Berücksichtigung von regulatorischen, ethischen, strategischen, Risikomanagement-Gesichtspunkten.
Was davon ist schon tägliche Praxis, auch in der Schweiz?
In der Schweiz haben wir beispielsweise «Z-Eye» entwickelt, eine Applikation, mit der durch Cognitive-Computing-Technologie sehr hohe Volumina medizinischer Dokumente für die Haftpflicht von Kliniken in kürzester Zeit analysiert werden können.
Ebenfalls in der Schweiz sowie in anderen Ländern können Offerten für die Motorfahrzeugversicherung bereits aufgrund der KI-basierten Analyse von Fotos der Fahrzeuge und offizieller Dokumente erstellt werden. Eine wichtige Rolle spielt KI zudem bei der Betrugserkennung und -prävention, sowohl bei der Schadenbearbeitung als auch beim Underwriting.
KI ermöglicht es uns, unsere Kunden schneller und mit besseren Versicherungslösungen zu bedienen.
Lisa Bechtold
Was verbessert KI im Kundenmanagement?
Kurz gesagt: KI ermöglicht es uns, unsere Kunden schneller und mit besseren Versicherungslösungen zu bedienen. Beispielsweise können durch die automatisierte Triagierung und Bearbeitung eingehender Kommunikation (Briefe, E-Mails, bald auch Telefonate) Kundenanliegen noch schneller und gezielter beantwortet werden. KI-Lösungen werden bereits von zahlreichen Zurich-Ländereinheiten sowohl im Privat- als auch im Firmenkundengeschäft eingesetzt.
Mit KI ist eine enorme Effizienzsteigerung möglich - zum Beispiel bei der automatisierten Policenprüfung.
Lisa Bechtold
Was bringt die Umstellung auf mehr Automatisierung?
Durch automatisierte Analyse und Prüfungen, beispielsweise von Versicherungspolicen, kann eine enorme Effizienzsteigerung erreicht werden. Die Schadenfallanalyse wird deutlich beschleunigt, die Fehlerquote sinkt. Auch komplexere Fälle mit höherem Datenvolumen können sehr zügig bearbeitet werden, was die Kunden freut. Die Transparenz der Entscheidungsprozesse für Kunden ist höher. Der Kundenservice lässt sich also mit KI nachhaltig verbessern.
Ein Beispiel: Wie funktioniert KI in der Schadenfallanalyse?
Bei einem Pilotprojekt, das Zurich UK mit dem Startup Sprout.ai zwischen Dezember 2020 und Februar 2021 durchführte, wurden die Abwicklungszeiten für Sachschäden mit einer KI-Lösung auf unter 24 Stunden reduziert - eine enorme Effizienzsteigerung!
Die KI-Lösung im Projekt wurde auf der Grundlage von Daten und Dokumenten, einschliesslich des Wortlauts von Versicherungspolicen aus über 20’000 früheren Schadensfällen, entwickelt und trainiert. Ermöglicht wurde der systematische Datenabgleich durch den Einsatz von Natural Language Processing (NLP), OCR (Optical Character Recognition) und sogenannten «Knowledge Graphs». Ziel war die Lancierung der automatisierten Policenprüfung – eine Neuheit auf dem Versicherungsmarkt.
Das KI-System Sprout.ai fällt nicht selbst die Entscheidung, sondern stellt dem Schadenbearbeiter eine sehr fundierte Grundlage zur Verfügung.
Lisa Bechtold
Und das Ergebnis?
Mit Blick auf das gesammelte Wissen entspricht diese KI-Lösung einem Sachbearbeiter mit 100 Jahren Erfahrung und einer Lesegeschwindigkeit von 10'000 Wörtern pro Mikrosekunde. Schadenfälle können zudem innerhalb weniger Stunden mit einer Genauigkeit von über 98 Prozent bei der Prüfung von Policen auf intelligente Weise eingeordnet und bearbeitet werden. Das sind deutlich bessere Werte, als der Mensch sie erreichen kann.
Entscheidet dann letztlich der Algorithmus im Schadenfall?
Nein, das KI-System fällt nicht selbst die Entscheidung, sondern stellt dem Schadenbearbeiter eine sehr fundierte Grundlage zur Verfügung, auf dessen Basis die passende Entscheidung getroffen werden kann.
Eine weitere Besonderheit des Systems ist ein automatisierter Abgleich mit einer Ombudsmann-Datenbank. Die neutrale Stelle wird bei Entscheidungen in komplexen Fällen mit einbezogen.
Welche Datenbasis wird dabei genutzt?
Wir stützen uns bei dieser Analyse ausschliesslich auf Zurich-Daten, die von unseren Teams selbst gemanagt werden. Die Art der erhobenen Daten hat sich nicht geändert; sie werden dank KI allerdings schneller und präziser analysiert.
Ein Schaden muss aber weiterhin vom Kunden gemeldet werden?
Ja. Doch die Meldung hat sich deutlich vereinfacht. Wir bewegen uns immer mehr dahin, dass ein Kunde einfach ein Foto senden und den Vorfall über seinen bevorzugten Kommunikationskanal der Versicherung melden kann.
Bei der Schadenbearbeitung konnte die Zurich durch den Einsatz von KI die Zeit für Schadenbearbeitung um über 65 Prozent und das Schadenhandling um über 37 Prozent reduzieren.
Lisa Bechtold
Wie lässt sich mit KI die Kundenerfahrung verbessern bzw. mehr Digital Convenience beim potenziellen Versicherten ermöglichen?
KI-Systeme eröffnen neue Möglichkeiten für eine optimierte Kundenbetreuung von einer automatisierten Offertenerstellung über einen digitalen Abschluss und Analyse von Kundengesprächen bezüglich Optimierungspotenzial bis zur Schadenbearbeitung innerhalb von Minuten. Bei der Schadenbearbeitung konnte die Zurich durch den Einsatz von KI die Zeit für Schadenbearbeitung um über 65 Prozent und das Schadenhandling um über 37 Prozent reduzieren sowie die Kundenzufriedenheit um mindestens 30 Prozent steigern. Wenn Kunden ihren Schadenfall schnell bearbeitet sehen, ist schon viel erreicht.
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