Marco Huwiler, Consumer Experience ist das Zauberwort. Was kann Gen AI für Konsumentinnen und Konsumenten leisten?

Das Spektrum ist relativ breit. Gen AI kommt überall da zum Zug, wo unstrukturierte Prozesse stattfinden. Durch die Möglichkeit, Sprache, Bilder, Videos oder Produktdesigns in einer hohen Qualität künstlich zu erstellen, entstehen für die Konsumentinnen und Konsumenten potenziell bessere Dienstleistungen oder Produkte.

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Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir das Beispiel eines Callcenters. Die Chance besteht, mit all den Möglichkeiten von AI und Gen AI Kundensupportprozesse umfassend zu verändern, sodass für Konsumentinnen und Konsumenten letztendlich schnellere Antwortzeiten, bessere Antworten und eine Erreichbarkeit rund um die Uhr möglich werden. 

Alles via KI?

Nein. Es braucht immer auch den Menschen im Prozess. AI und Gen AI können Mitarbeitende eines Callcenters gut unterstützen, Ihnen einen Teil der Aufgaben abnehmen und sie in anderen Aufgaben unterstützen. Nicht alles muss voll automatisiert sein. 

Wird auch die Verständlichkeit der Informationen erhöht?

Auf alle Fälle. Wenn ich nicht in einer der vier Landessprachen oder auf Englisch reden kann, habe ich heute in der Regel ein Problem, bedient zu werden. Mit Gen AI kann ich Kundeninteraktionen in Echtzeit in praktisch jeder Sprache führen. Geschwindigkeit, Qualität und Zugänglichkeit sind die drei Hauptvorteile.

Was leistet KI bei Versicherungen sonst noch für die Endkundschaft?

KI hat einen Einfluss in allen Bereichen einer Versicherung. KI ist zum Beispiel im Schadenumfeld bereits stark eingesetzt, so zum Beispiel zur Betrugsbekämpfung. Aber auch im Underwriting und im Vertrieb lassen sich grosse Potenziale heben. In allen Fällen kann die Kunden-Experience persönlicher gestaltet werden, wenn diese Technologien richtig eingesetzt werden. Sie ermöglichen eine stärkere Personalisierung und Relevanz und gleichzeitig schnellere und effizientere Prozesse. 

Zur Person Marco Huwiler

Marco Huwiler (44) ist CEO von Accenture Schweiz. Vorher stand er an der Spitze des Geschäftsbereichs Financial Services von Accenture in der Schweiz und zeichnete dort verantwortlich für das Management und die Entwicklung der Einheiten Assekuranz, Banking und Kapitalmärkte. Darüber hinaus ist Huwiler Account Lead für einige der grössten Finanzdienstleistungsklienten von Accenture in der Schweiz. Huwiler stiess 2001 zu Accenture.

Welche Veränderungen gibt es wegen KI im Versicherungswesen?

Wie erwähnt, betrifft KI alle Bereiche der Wertschöpfung einer Versicherung. Gerade auch durch die Möglichkeiten von Gen AI wird die Art der Arbeit in der Zukunft komplett anders aussehen. Viele Aktivitäten lassen sich automatisieren, andere werden durch Technologie unterstützt, und gleichzeitig kommen neue Aktivitäten hinzu. Dies erfordert ein kontinuierliches Lernen und ein Neudenken der zukünftigen Jobprofile. Das zeigt auch unser Report «Competitive Switzerland» auf.

Wo ist ein Einsatz heute schon möglich?

Grundsätzlich ist KI überall bereits im Einsatz, und Gen AI kann ebenfalls überall eingesetzt werden. Die Frage ist viel eher, ob Organisationen bereit sind, diese Möglichkeiten skaliert zu nutzen. Es braucht hierfür einen CEO- und wertgesteuerten Ansatz, einen digitalen Kern, einen verantwortungsvollen Umgang mit AI und die Absicht, die Mitarbeitenden auf der Reise in die neuen Jobprofile zu entwickeln.

Gibt es andere Anwendungen bei Versicherungen?

Es gibt einen Bereich, der speziell für Versicherungen wichtig ist, weil sie vom Geschäftsmodell her sehr IT-intensiv arbeiten: die Softwareentwicklung entlang des gesamten Entwicklungsprozesses. Doch streng genommen kann man durch die ganze Wertschöpfungskette gehen: Es gibt praktisch keinen Bereich, in dem man Gen AI nicht gewinnbringend einsetzen kann.

Was sind die grundlegendsten Herausforderungen?

Versicherungen wie auch andere Industrien müssen wegkommen vom Denken in einzelnen Use-Cases. Ein herkömmlicher Use-Case geht immer vom bestehenden Prozess aus. Das bisher typische Vorgehen war: Ich nehme mir einen Schritt vor und optimiere ihn. Das ist typischerweise auf Effizienz ausgerichtet. Das Problem dabei ist: im Prinzip arbeite ich immer noch gleich wie zuvor. Um davon wegzukommen, muss man komplett neu denken.

Und dann folgt die Effizienz auf dem Fuss?

Exakt. Ein gutes Beispiel ist das Underwriting im Firmenkundengeschäft. Dieses Geschäft wird hauptsächlich über Broker abgewickelt. Die Prüfung, welche Anfragen von Brokern und Versicherern beantwortet, ist relativ intensiv, weil man diese genau prüfen muss. Wenn dieser Prozess nun mit AI und Gen AI optimiert wird, kommen die Beteiligten viel schneller zu einer guten Entscheidung und können dementsprechend mehr Anfragen beantworten. Die Einzelfälle sind komplex, jeder ist anders.

Was sind die Vorteile einer Gen-AI-Anwendung?

In unserer Studie haben wir bei Accenture herausgefunden: Mit Gen AI können Unternehmen ihre Effizienz um etwa 22 bis 30 Prozent steigern, wenn sie diese früh genug implementieren. Mit gleichem Aufwand wird mehr Top-Line generiert. Das ist das Spannende an dieser Technologie. 

Wird das bereits umgesetzt?

Das ist nichts, was von heute auf morgen geschieht. Dafür müssen alle Mitarbeitenden auf diesen Weg mitgenommen werden. Die Art und Weise, wie Angestellte arbeiten, sieht morgen komplett anders aus. 

Das heisst, das Versicherungswesen, wie wir es heute kennen, wird in zehn Jahren nicht mehr so existieren und komplett umgekrempelt?

Es wird restlos umgepflügt. So viel ist heute schon sicher. Offen ist nur, wie schnell dies passiert. Keine Versicherung kommt langfristig an generativer KI vorbei. Die Frage wird sein, wie rasch die Konsumentinnen und Konsumenten die Veränderungen adaptieren. Und auch: Welche Unternehmen nutzen die Chance? Das werden wir sehen.

Was heisst das für die einzelnen Unternehmen? Gibt es einen riesigen Gap zwischen denen, die sich so etwas leisten können, und denen, die weniger Ressourcen haben?

Es ist eine ähnliche Ausgangslage wie bei vielen anderen Technologien. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes. Technologiesprünge können eine Chance für kleinere Institute sein, die schnell lernen und ihre Chancen nutzen. Grössere Institute verfügen zwar über mehr Ressourcen für Investitionen, haben dafür aber oft grössere organisatorische Hürden, um die Veränderung mitzugehen.

Was ist der Matchpoint, das Entscheidende?

Entscheidend werden die Mitarbeitenden sein. Sie muss man wie gesagt unbedingt mit auf die Reise nehmen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. In unserer Studie besprechen wir das unter dem Titel «People-centric Approach».

Können Sie das näher erläutern?

Im Prinzip geht es darum, übereffizient zu denken. Nicht einfach zu sagen: Ich spare 20 Prozent Aufwand und baue Belegschaft ab, um profitabler zu sein. Sondern wer längerfristig denkt, erkennt die Chance, ein besseres Produkt, einen besseren Service für die Konsumentinnen und Konsumenten zu generieren. Daraus resultiert auch spannendere Arbeit für Mitarbeitende. Und es zahlt sich auch für die Firma aus.

Was bedeuten diese Veränderungen aus Sicht der Arbeitnehmenden?

Unsere Studie hat gezeigt, dass die Offenheit der Leute sehr gross ist, sich mit dem Thema auseinandersetzen und neue Fähigkeiten zu erlernen. Lebenslanges Lernen ist mit all den Technologiesprüngen, die immer schneller kommen, ein absolutes Muss.

Die technische Jobarchitektur der Zukunft wird komplett anders aussehen. Es kommen ganz viele neue Aktivitäten dazu. Und das Bündel von Aktivitäten wird neu zusammengesetzt werden. Genau das ist das Spannende.

Sie meinen, die heile, fröhliche Arbeitswelt kommt bestimmt?

Nein. Es wird nicht alles smooth gehen. Es wird Branchen geben, die Leute entlassen. Darum muss man sicherstellen, dass gute Weiterbildungsmöglichkeiten gegeben sind. Das ist über ganz normale Programme möglich, die es bereits gibt. Ich sehe die Entwicklung recht optimistisch. Alle bisherigen Technologiesprünge führten letztlich zu besseren und produktiveren Jobs. 

Der ganze Umbau bringt Risiken mit sich. Worauf muss die Versicherungsseite achten?

Es ist ein unglaublich wichtiges Thema. Wir nennen das «Responsible AI», einen verantwortungsvollen Umgang mit der AI. Da geht es nicht nur darum, nur einen Charter zu definieren, sondern eine umfassende Sicht zu generieren, entlang verschiedener Aspekte, tief in die Wertschöpfungskette rein.

Es gibt ganz viele Bereiche, etwa auch das Thema Nachhaltigkeit, die man in diesem Zusammenhang angehen muss. Auch müssen Firmen unglaublich strukturiert mit Risiken rund um Datenqualität oder Fairness umgehen. Cyberkriminalität ist ein weiteres Thema. Dort sind die Versicherungen historisch recht weit.  

Und wenn eine KI Fehler produziert? Diese Gefahr besteht doch auch.

Absolut. Und es ist nicht nur eine Gefahr, dass falsche Resultate kommen können, sondern es ist ein Fakt. Gen AI ist nicht per se intelligent. Sie kann lediglich unglaublich gut voraussagen, was das nächste Wort ist. Aber sie weiss nicht, was richtig oder falsch ist. Das ist die ganze Technologie dahinter.

Was müssen Firmen tun, um ihr Risiko zu minimieren?

Wenn ich die Technologie aufsetze, ist es ganz wichtig, die zukünftigen Prozesse so zu gestalten, dass immer der Mensch im Spiel ist und letztendlich die Verantwortung hat.
Die Firmen haben ausserdem die Aufgabe, transparent zu sein. Wo verwenden sie welche Technologien?

Wenn ich das Gefühl habe, dass etwas keinen Sinn ergibt, dann kann ich immer noch jemanden physisch anrufen.

Wer eine Gen AI mit Daten trainiert, die sehr spezifisch für den verwendeten Kontext sind, hat Vorteile. Denn so reduziert sich die Wahrscheinlichkeit von Fehlern dramatisch. Wenn dennoch ein Fehler passiert – seien wir ganz ehrlich: Das geschieht heute auch, nur menschengemacht. 

Wie weit sind Schweizer Unternehmen bei der Einführung dieser neuen Technologie im Vergleich zum Ausland?

Grundsätzlich sind die meisten Firmen, auch international, immer noch am Experimentieren. Es gibt praktisch keine Versicherung mehr, die mit generativer KI noch nichts macht. Aber die wenigsten skalieren bereits. Im internationalen Vergleich skalieren in der Schweiz 2 Prozent der Unternehmen. Global liegt dieser Wert für Gen AI bei 7 Prozent. Schweizer Firmen sind also etwas langsamer in der Skalierung.

Würden Sie diese Aussage auch auf die Versicherungsbranche ausdehnen?

Ja, das gilt auch für die Versicherungen hierzulande.

Was ist denn am Schweizer Markt anders als im EU-Markt?

Ich glaube nicht, dass es sich bei den erwähnten Unterschieden nur um Marktgründe handelt. Es ist wahrscheinlich eine Mischung von beidem. Die Innovationsfähigkeit über die letzten zehn bis zwanzig Jahre hat etwas damit zu tun, aber auch der Fakt, wie solide die Firmen aufgestellt sind. Es ist typisch: Wo kein Druck herrscht, gibt es weniger Innovation. Man kann positiv formulieren: Mit einer gewissen Zurückhaltung aus einer Position der Stärke schaut man sich die Sache genau an.

Ich glaube, das Wichtige ist, dass man die Entwicklung nicht verpasst. Wenn die zögerliche Haltung jedoch länger andauert, kann der Unterschied gross werden.

Und in anderen Branchen?

Dort kann es eine Bedrohung sein, denkt man etwa an die Pharmabranche. Wenn ein Unternehmen dort die Umstellung auf KI verpasst, immer zu gleichen Kosten in der Medikamentenentwicklung arbeitet, sind andere Firmen rund um den Globus plötzlich signifikant günstiger. Die Konsequenz: Irgendwann bin ich weg vom Markt. Da interessiert es niemanden, ob die Konkurrenten in einem anderen Land sitzen.