Die Versicherer sind bestrebt, einen möglichen Schadenfall vorherzusagen und dessen Kostenfolgen zu berechnen. Haben Sie die Corona-Krise kommen sehen?

Rolf Dörig: Versicherer stellen Modelle auf, um ein Risiko und dessen Folgen zu berechnen. Das gehört zum Einmaleins unseres Geschäfts. Ich glaube aber nicht, dass sich jemand vorstellen konnte, was das Virus für unsere Gesellschaft und für einen persönlich bedeutet.

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Thomas Helbling: Was es heisst, wenn alltägliche Aktivitäten zu unserem Schutz verboten werden und nicht einmal der Besuch der engsten Familienangehörigen mehr möglich ist; nein, das konnte sich kaum jemand vorstellen …

Mit den vom Bundesrat befohlenen Betriebsschliessungen kamen die Versicherer rasch ins Kreuzfeuer der Kritik. Können Sie das verstehen?

Thomas Helbling: Und ob. Die Order aus Bern, von einem Tag auf den anderen den Betrieb zu verriegeln, war ein Schock für alle betroffenen KMU. Da greift man reflexartig zu seinem Versicherungsvertrag und schaut, ob ein solcher Betriebsausfall gedeckt ist.

Rolf Dörig: Als Versicherer galt es im Lockdown, in erster Linie unser Geschäft so gut als möglich aufrechtzuerhalten und unseren Verpflichtungen gegenüber unseren Kundinnen und Kunden nachzukommen. Seit Jahr und Tag zahlen wir Privatversicherer täglich 139 Millionen Franken an Renten und Schadenleistungen aus. Gerade in einer Krise, wie wir sie gerade erleben, ist es wichtig, dass diese Zahlungen sicher und wie gewohnt zuverlässig fliessen.

«Alle Versicherer haben in dieser Krise auf vielfältige Weise den KMU unter die Arme gegriffen und dabei auch viel Geld in die Hände genommen.»
SVV-Präsident Rolf Dörig

Es gab aber auch die Forderung nach mehr Kulanz.

Thomas Helbling: … und auch wenn wir Verständnis haben für all jene, die sich mehr Leistung von ihrer Versicherung erhofft hätten, können und dürfen die Versicherer nicht einfach aufgrund der ausserordentlichen Lage die vertraglichen Abmachungen aus den Angeln heben. Risiken einzuschätzen und die dafür adäquaten Prämien zu kalkulieren, ist Präzisionsarbeit und zwingt zur Einhaltung dieser Regeln auch im Schadenfall. Denn nur dann, wenn bei der Schadenregulierung jene Schäden gedeckt werden, für die eine Versicherungsdeckung besteht, funktioniert die Mechanik dieses feintarierten Systems. Dennoch hat der SVV schon zu Beginn der Krise seinen Mitgliedgesellschaften empfohlen, geeignete Massnahmen zu ergreifen, um in dieser ausserordentlichen Situation betroffenen KMU Hilfe zu leisten.

Rolf Dörig: Rückblickend haben wir da offene Türen eingerannt. Auch wenn unsere Mitgliedgesellschaften zu Recht auf der Einhaltung der Verträge beharrten, heisst das nicht, dass sie nicht kulant oder unsolidarisch gehandelt haben. Alle Versicherer haben in dieser Krise auf vielfältige Weise den KMU unter die Arme gegriffen und dabei auch viel Geld in die Hände genommen. Auf unserer Website findet sich eine lange Liste dieser Soforthilfemassnahmen.

Thomas Helbling: Solidarität in der Krise ist das eine. Ebenso wichtig ist der Blick nach vorne. Die Gefahr einer zweiten Welle oder einer nächsten Pandemie steht im Raum. Deshalb haben wir sofort mit dem Bund Kontakt aufgenommen und arbeiten seither gemeinsam an Lösungen für den Wiederholungsfall. Auch wenn dieses Risiko sehr hoch ist, müssen Wege gefunden werden, damit es künftig versicherbar ist. So wollen wir für die Sicherheit unserer KMU einen Beitrag leisten. 

«Das Leben mit der Pandemie wird Spuren hinterlassen und den Trend zu mehr Nachhaltigkeit noch beschleunigen.»
SVV-Direktor Thomas Helbling

Die Corona-Krise hat das Thema Nachhaltigkeit überdeckt – war die grüne Welle doch nur eine Modeerscheinung?

Thomas Helbling: Keinesfalls. Das Leben mit der Pandemie wird Spuren hinterlassen und den Trend zu mehr Nachhaltigkeit noch beschleunigen. Unser Wille, das Pandemierisiko versichern zu können, ist ja gerade ein Beispiel hierfür.

Rolf Dörig: Die Nachhaltigkeit gehört zur DNA von uns Privatversicherern. Wir sind bereit, aktiv dazu beizutragen, die zentralen ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu meistern. Um einen Überblick zu erhalten, haben wir in diesem Jahr das erste Nachhaltigkeitsreporting publiziert. Unter anderem zeigt es, dass schon bei 86 Prozent der Anlagen der rapportierenden Gesellschaften unserer Branche ESG-Kriterien im Anlageprozess berücksichtigt werden. Und einzelne von uns sind bereits so weit, dass sie Ausschlusskriterien für besonders klimaschädliche Geschäfte festgelegt haben. Wir dürfen aber auch nicht überschiessen und mit übermässiger Regulierung nur Aufwand ohne Wirkung im Ziel generieren. Das würde letztlich unserer Branche und dem Wirtschaftsstandort Schweiz nur schaden.

Für die Versicherer ist auch die Altersvorsorge eine Frage der Nachhaltigkeit.

Rolf Dörig: Ich hoffe nicht nur für uns! Wir können nicht die Klimafrage effektvoll diskutieren und gleichzeitig an einer Altersvorsorge festhalten, die zulasten der Jungen geht. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass die Reform der zweiten Säule dringend und zwingend ist. Hier hat die Corona-Krise auch etwas Gutes, weil sie uns allen vor Augen führt, was auf uns zukommen wird, wenn jetzt nicht endlich gehandelt wird.

Wie beurteilen Sie den Vorschlag des Bundesrates zur BVG-Reform?

Thomas Helbling: Wir sehen positive Punkte und Anpassungsbedarf. Wir begrüssen den Kern der Reform, die Senkung des BVG-Mindestumwandlungssatzes auf 6,0 Prozent in einem Schritt. Umgekehrt lehnen wir den Rentenzuschlag für die Übergangsgeneration und dessen Finanzierung durch ein systemfremdes Umlageelement klar ab. Hier braucht es eine andere Lösung. Wir erwarten, dass der Bundesrat dem Parlament nun rasch eine Gesetzesvorlage unterbreitet. 

Auch beim Versicherungsvertragsgesetz VVG dauerte die Teilrevision Jahre. Sind Sie nun mit dem Ergebnis zufrieden?

Thomas Helbling: Es ist ein ausgewogenes Gesetz und hat die aktuellen Bedürfnisse unserer Gesellschaft aufgenommen. Zudem sorgt es für einen modernen Versichertenschutz und bei den Versicherern für eine bessere Grundlage bei der Kundenberatung. Das schafft gegenseitiges Vertrauen für einvernehmliche Vertragsbeziehungen im Versicherungsalltag. 

In der Differenzbereinigung im Parlament ging das Geschäft einige Male zwischen den Räten hin und her.

Rolf Dörig: Das gehört zum parlamentarischen Prozess. Vieles war von Beginn weg unbestritten. Dafür hat man bei einzelnen Themen lange und intensiv miteinander gerungen. Am Ende haben sich die Räte dann wie so oft gefunden.

Die Medien berichteten zum Teil sehr kritisch über die Versicherer, insbesondere auch über die Rolle des SVV.

Thomas Helbling: Ich bin froh, dass die Vorlage eine mediale Präsenz erhielt; das zeigt die Bedeutung der Materie für uns alle. Dass sie kontrovers diskutiert wurde, gehört zum politischen Geschäft. Als Versicherungsverband können wir mit Kritik umgehen. Allerdings gab es in der Diskussion um das VVG eine «Kassensturz»-Sendung, in der aus unserer Sicht die Zuschauerinnen und Zuschauer unsachgemäss informiert wurden. Wir haben Beschwerde eingereicht; mit Erfolg. Die Unabhängige Beschwerdeinstanz UBI hat unsere Sicht geteilt und den Inhalt der Sendung und die Arbeit des «Kassensturz»-Teams beanstandet.

Noch vor dem Abschluss der VVG-Teilrevision hat der Verband seine neue Strategie erarbeitet: alles neu für den SVV?

Rolf Dörig: Die Kernaufgabe des SVV bleibt, sich im Interesse seiner Mitgliedgesellschaften für optimale Rahmenbedingungen einzusetzen. Wir brauchen gute Wettbewerbsvoraussetzungen. Das heisst, so viel Regulierung wie nötig und so wenig wie möglich. Aber natürlich verändern sich Rahmenbedingungen. Deswegen haben wir die neue Strategie auch erarbeitet.
Thomas Helbling: Die Strategie «SVV 2020–2024» soll Schwerpunkte setzen und Orientierung stiften. Neu wollen wir unsere Rolle als Arbeitgeber noch stärker gewichten als bisher. Mit der Corona-Krise werden unsere Kernthemen noch wichtiger. Die Themen Nachhaltigkeit und Vorsorge bleiben in unserem Fokus. Und als tragende Säule des Finanzplatzes wollen wir unsere volkswirtschaftliche Verantwortung noch gezielter wahrnehmen.