"Staat und Versicherungen könnten und sollten sich verständigen, wer bei künftigen Lockdowns in welchem Ausmass und wie genau haftet", sagte Vorstandschef Joachim Wenning der Deutschen Presse-Agentur.
In den vergangenen Monaten hat es weltweit coronabedingte Streitfälle zwischen Unternehmen und ihren Versicherern gegeben. Vor dem Münchner Landgericht werden in dieser Woche mehrere derartige Zivilklagen gegen Versicherungen verhandelt. "Die Diskussion um Corona kreist im Wesentlichen um die Frage, inwieweit lockdown-bedingte Betriebsunterbrechungen von Sachversicherungen gedeckt sind", sagte Wenning zu der Diskussion. "In manchen Fällen ist das der Fall, in anderen nicht. Weil dieser Schutz teuer ist, ist er bei uns direkt aber auch kaum gekauft worden."
Wennings Vorschlag: "Das könnte so aussehen, dass sich die Versicherungswirtschaft darauf verständigt, bei einem künftigen Lockdown bis zu einem bestimmten Betrag Versicherungsschutz zu bieten", sagte der Manager, der seit 2017 an der Spitze der Munich Re steht. "Im Gegenzug erhält sie eine entsprechende Risikoprämie. Wird der Betrag überschritten, könnte der Staat einspringen - aber unter der Voraussetzung, dass das Unternehmen sich selbst versichert hat."
Gesunde Anreizstruktur schaffen
Ein solches Modell würde eine gesunde Anreizstruktur schaffen und eine Breitenwirkung erzielen, die es heute nicht gebe, sagte Wenning. "Und es wäre transparent: Jeder wüsste, was gedeckt ist und was nicht. Mit anderen Worten: Wer sich impft, erhält die notwendige Rückendeckung von Versicherung und Staat, wenn es ernst wird. Wir liefern den Impfstoff für die Wirtschaft."
Wenning betonte, dass die Versicherungsbranche in mehrfacher Hinsicht für Coronafolgen geradestehe: "Versicherungsschutz greift in vielen Situationen: Todesfälle sind von der Lebensversicherung unterschiedslos gedeckt, bei der Krankenversicherung ist es genauso. Auch die Veranstaltungsausfallversicherung greift, das spüren wir." Der eherne Grundsatz der Münchner Rückversicherung seit dem ersten Tag sei: "Alles, was von uns versichert und gedeckt ist, wird von uns bezahlt, selbst wenn es uns überrascht und schmerzhaft ist."
Doch für nicht versicherte Schäden kann die Branche nach Wennings Einschätzung auch nicht einstehen: "Wenn man jetzt fragt: Könntet ihr als Versicherung die volkswirtschaftlichen Kosten einer Pandemie übernehmen? Dann ist die ganz klare Antwort: Nein, das Risiko ist viel zu gross und lässt sich nicht diversifizieren."
Schnelle Erholung der Weltwirtschaft
Anders als manche Ökonomen geht Wenning von einer vergleichsweise schnellen Erholung der Weltwirtschaft von der Corona-Pandemie aus. "Das fusst auf der Zuversicht, dass es bald medizinische Behandlungsmöglichkeiten geben wird, die besser sind als die heutigen, und die Fähigkeit zur Massenimpfung zur Verfügung steht - wenn nicht zum Jahresende, dann in der ersten Hälfte des nächsten Jahres", sagte der Vorstandschef des 1880 gegründeten Konzerns. "Falls dies nicht gelingt, muss man damit rechnen, dass die Erholung länger dauert. Aber das lässt sich sehr schwer vorhersagen."
Mitten in einem Japan-Szenario
Langfristig sieht Wenning jedoch eher unerfreuliche Perspektiven: "Durch die Covid-19-bedingten Konjunkturprogramme und durch die Politik der Zentralbanken wird in einer Weise Geld in die Märkte geschwemmt, dass wir von niedrigen Zinsen für eine sehr lange Zeit ausgehen. Wir sollten nicht darauf hoffen, dass sich die Zinsen innerhalb der nächsten fünf oder zehn Jahre nach oben erholen", sagte der promovierte Volkswirt. "Ich glaube, dass wir mitten in einem Japan-Szenario sind."
Japan gilt vielen Wirtschaftswissenschaftlern als Musterbeispiel für die missglückte Bewältigung einer Krise: Anfang der 1990er Jahre platzte dort eine Spekulationsblase, die Immobilien- und Wertpapierpreise in schwindelerregende Höhen getrieben hatte. Anschliessend litt das Land jahrelang unter sehr niedrigen Wachstumsraten und niedrigen Zinsen, die Folgen sind bis heute nicht gänzlich überwunden.
Der Preis von Niedrigzinspolitik
Der Preis von Niedrigzinspolitik sei, "dass Fremdverschuldung nichts kostet", sagte Wenning. "Wenn Schulden nichts kosten, verschulden sich Staaten und Unternehmen. Geschieht das, ohne dass dafür real Nachteile in Kauf genommen werden müssen, können diese Gelder in nicht produktive und nicht effiziente Verwendung gehen." Das gehe zulasten der Produktivität und des Wachstums von Volkswirtschaften.
"Der Grösse und Qualität des Kuchens tut das nicht gut. Langfristig drohen dann auch Wachstumsraten, die sich dem Zinsniveau anpassen", sagte Wenning. "Bei Nullwachstum werden Verteilungsfragen zum Problem, denn es gelingt nicht mehr, Menschen an Wohlfahrtszuwachs teilhaben zu lassen; noch weniger, wenn die Inflation positiv ist. Für die junge Generation wäre das eine zusätzliche schwere Bürde."
(awp/hzi/kbo)