Nicht nur durch die Produkte, sondern auch mit ihren Arbeitsweisen haben führende Technologie-Unternehmen wie Google, Netflix oder Spotify die Lebens- und Arbeitswelt der Zukunft geprägt. Sie waren es, die sich intensiv der Frage gewidmet haben, wie man Arbeit in komplexen sozialen Systemen für alle Beteiligten besser organisieren kann und wie man diese Ansätze auf immer grössere Einheiten erfolgreich skaliert.

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Der Autor, Marco Schmid, arbeitet als Director, Work & Rewards bei WTW Schweiz

Ihre Pionierarbeit hat die Vorstellungen von Aufbau- und Ablauforganisation weit über die Tech-Branche hinaus revolutioniert. Die Liste der wichtigen Neuerungen ist lang: flache Hierarchien, Netzwerke aus selbstorganisierten Teams, kurze Iterationen von Versuch und Irrtum, kontinuierliches Lernen, radikaler Fokus auf Kunden- bzw. User-Experience, Peer-Feedback, permanent wechselnde Rollen, ein hoher Grad von Transparenz sowie die herausragende Bedeutung der Unternehmenskultur.

Was Technologie-Unternehmen anders machen

Die neuartige Arbeitsorganisation der Technologie-Unternehmen hat einen neuen, experimentelleren Umgang rund um Job Leveling und Stellenarchitektur mit sich gebracht. Diese traditionellen Systeme und Prozesse der Personalverwaltung definieren Aufgaben, Verantwortlichkeiten oder Karrierewege für bestimmte Rollen. Relevant werden solche Systeme ab der Grösse von mehreren Hundert Mitarbeitenden; für Startups oder KMU spielen sie meist keine Rolle.

Wie Technologie-Unternehmen ihre Arbeitsorganisation angegangen sind, lässt sich am besten anhand der Schlüsselelemente Struktur, Prozesse, Erfahrung sowie der fortlaufenden Evolution des Vorgehens illustrieren.

Struktur schafft Klarheit

Die typischen Strukturelemente der Mitarbeiterorganisation sind auf Klarheit ausgelegt. Dazu gehören multiple Karrierepfade, breitere Nivellierungen von Hierarchien sowie die Definition von Stellenfamilien und/oder Disziplinen mit generischen Rollen. An Bedeutung gewinnt ausserdem das proaktive Skills-Management, um Mitarbeitende und Stellen bzw. Projekte passgenau zusammenzubringen.

Anhand dieser Strukturelemente sollen Mitarbeitende transparent über ihre individuellen Entwicklungsmöglichkeiten informiert werden. Gleichzeitig sollen funktionale Silos und vorgegebene Pfade vermieden werden. Daher sind die Level-Beschreibungen eher als Erwartungshorizont bzw. Verhaltensanker formuliert. Häufig werden rollenübergreifende und rollenspezifische Aspekte in der Levelabgrenzung kombiniert. 

Prozesse schlank halten

Der Leitsatz «People over Process» führt zu sehr schlanken Prozessen in Technologie-Unternehmen. Gerade bei Fachrollen wird der wechselseitigen Abhängigkeit von Rolle und Person Rechnung getragen. Es erfolgt keine klassische Stellenbewertung, sondern eine Einordnung der Mitarbeitenden in eine eher grob angelegte Karriere- und Rollenlandschaft. Karriereentwicklung bedeutet hier, dass sich Mitarbeitende in unterschiedlichen Rollen auf sehr individuelle Weise durch die Karrierelandschaft bewegen.

Entwicklung und Beförderung auf das nächste Level erfolgen im Rahmen eines partizipativen Planungs- und Beratungsprozesses mit Führungskräften und unter Einbeziehung von Peer-Feedback auf Basis transparenter Kriterien, die Orientierung geben, aber nicht mechanistisch interpretiert werden sollen. 

Erfahrung unterstützt individuelle Entwicklung

Für Mitarbeitende liegt der Fokus auf Entwicklung, nicht auf Beförderung. Wichtige Entwicklungsschritte, wie ein erfolgreich beendetes Projekt, werden ins Rampenlicht gestellt, weniger die formalen Karriereschritte. Die Struktur liefert Inspiration für Entwicklungsmöglichkeiten und lässt genügend Raum für individualisierte Wachstumspfade. Die Erfahrung von Struktur fügt sich in den Arbeitsprozess und das Wachsen an den eigenen Aufgaben ein. Mitarbeitende und Unternehmen begegnen sich auf Augenhöhe.

Aus Sicht der Führungskräfte integrieren sich Struktur und Prozesse nahtlos in ihre Planungs- und Steuerungsverantwortung. Leveling und Architektur liefern den notwendigen Bezugsrahmen sowie bereichsübergreifende Transparenz. Von zentraler Bedeutung ist die Bereitstellung entscheidungsunterstützender Daten sowie entsprechender Beratung durch den Personalbereich. 

Kulturelle Prägung erfordert fortlaufende Reflexion

Die individuelle Praxis innerhalb der Technologie-Unternehmen ist das Ergebnis einer höchst unternehmensspezifischen Evolution. Technologie-Unternehmen kommen häufig aus einer Startup-Historie mit minimalen Strukturen und Prozessen, einer zwangsläufigen, oft aus der Not geborenen, später dann bewusst kultivierten Mitarbeiterzentriertheit und ausgeprägten Flexibilität. Ihre Praktiken sind nicht übergestülpt, sondern in einem fortlaufenden Suchen und Tasten gemeinsam mit Führungskräften und Mitarbeitenden entwickelt worden. Sie sind Teil der kulturellen DNA ebenso wie die fortlaufende Reflexion, Erprobung und Weiterentwicklung.

Traditionelle Unternehmen sind heute mehr oder minder mit organisatorischen «Altlasten» beladen: viel zu viel Struktur, Prozesse, Systeme, Vorgaben, Abstimmungsrunden, Komitees, alles auf Basis ererbter Annahmen und Glaubenssätze aus einer vergangenen Zeit.  Dieses kulturelle «Operating System» zu ändern, erfordert Mut, Beharrlichkeit und Experimentierfreude.

Marco Schmid

Evolution ist unternehmensspezifisch

Die Antwort auf die Frage, ob ein Versicherungsunternehmen von den Erfahrungen der Technologie-Unternehmen profitieren kann, lautet Jein. In der Regel haben traditionelle Unternehmen einen völlig anderen Ausgangspunkt als die ehemaligen Startups der Technologie-Branche.

Traditionelle Unternehmen sind heute mehr oder minder mit organisatorischen «Altlasten» beladen: viel zu viel Struktur, Prozesse, Systeme, Vorgaben, Abstimmungsrunden, Komitees, alles auf Basis ererbter Annahmen und Glaubenssätze aus einer vergangenen Zeit. 

Dieses kulturelle «Operating System» zu ändern, erfordert Mut, Beharrlichkeit und Experimentierfreude. Insofern können die Praktiken von Technologie-Unternehmen Inspiration sein für die jeweils eigene Reise, aber sie eignen sich nicht zum Kopieren. 

Anpassungsdruck nimmt zu

Verschliessen kann sich die Versicherungsindustrie gegenüber organisatorischen und kulturellen Anpassungen nicht. Technologische Entwicklungen in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Robotik oder Fintech etablieren sich schneller als angenommen. Damit einher gehen oft Kostendruck und Effizienzgewinne zugunsten der Kunden.

Damit traditionellere Versicherungsunternehmen mit dem Wandel mithalten können, müssen sie die Herausforderungen eines neuen Arbeits-Ökosystems meistern. Sie sollten sich stark mit dem Thema Zukunft der Arbeit beschäftigen. Im Fokus stehen dabei die klassischen Fragen: Wie, wo und von wem soll die Arbeit erledigt werden; welche Arbeitsschritte können automatisiert werden. Die für die Etablierung von Innovationen benötigten Fachkräfte befassen sich mit den neuen Anforderungen an Arbeit seit längerem. 

Damit traditionellere Versicherungsunternehmen mit dem Wandel mithalten können, müssen sie die Herausforderungen eines neuen Arbeits-Ökosystems meistern. Sie sollten sich stark mit dem Thema Zukunft der Arbeit beschäftigen.

Marco Schmid

Die HR-Abteilungen von Versicherungen sollten sich mit folgenden Themen beschäftigen, um den Anschluss im Arbeitsmarkt nicht zu verlieren:

  • Work Scan: Bewertung der Arbeit mit dem Ziel, ausgewählte Aufgaben in einzelne Arbeitsschritte zu zerlegen und neue Arbeitsalternativen zu analysieren.
  • Work Strategy: Definieren, wie die neuen Arbeiten ausgeführt werden (z. B. Neuzusammensetzung von Stellen, KI und Robotik).
  • Work Architecture: Aufbau von Plattformen, um Talente innerhalb und ausserhalb des Unternehmens nahtlos mit den neuen Arbeitsformen zu verknüpfen.
  • Talent Marketplace: Entwickeln von Plattformen, mit denen nahtlos neue Mitarbeiter intern und extern für neue Aufgaben vermittelt werden können.
  • Reskilling Pathways: Die kontinuierliche Nachqualifizierung von Talenten auf Basis der sich ändernden Anforderungen sicherstellen.
  • Talent Value Proposition: Anpassen der Rewards auf die sich verändernde Nachfrage nach Fähigkeiten und Mitteln, mit denen die Arbeit geleistet wird, um alle Arten von Mitarbeitern und Nicht-Mitarbeitern zu beschäftigen.

Wie optimale Lösungen für individuelle Unternehmen aussehen, lässt sich nicht vorwegnehmen. Sie sollten in fortlaufender Interaktion mit dem Unternehmenssystem und den einzelnen Akteuren erarbeitet werden. Wichtig ist, sich den ersten Schritt zuzutrauen und dann flexibel mit dem Veränderungsprozess umzugehen.