Wie gehen Sie mit Risiken im Alltag um?
Christian Kessler: Risiko verstehe ich als Chance und Gefahr. Ich versuche, möglichst bewusst damit umzugehen. Meine persönliche Risikotoleranz ist relativ gross, aber sie hat sicher in den letzten Jahren abgenommen. Man wird älter und im Familienleben mit Kindern entsprechend vorsichtiger.
Steht die Sicherheit zuvorderst?
«Mit Sicherheit voraus» ist der Claim von Kessler. Wir wollen damit sagen, dass wir unseren Kunden helfen, nachhaltig erfolgreich zu sein. Aber nicht alle Risiken sind versicherbar, wie die aktuelle Corona-Krise zeigt. Eine Pandemie kann die Finanzkraft des globalen Versicherungsmarktes übersteigen. Und sowieso, bei solch gesundheitlichen Katastrophen gilt für jede und jeden: Sicherheit zuerst.
In der Schweiz sind die Leute auf Sicherheit bedacht. Wir gelten als Land mit einer der höchsten Versicherungsabdeckungen weltweit. Ist das eine wichtige Voraussetzung für das Brokergeschäft?
Die hohe Versicherungsdurchdringung bezieht sich insbesondere auf das Privatkundensegment, nicht unbedingt auf Firmenkunden. Ein Broker sieht sich nicht nur als Partner für Versicherungen, sondern ganz allgemein für das Risikomanagement. Wir verstehen uns nicht als reiner Vermittler. Beim Kontakt mit den Kunden definieren wir die Risiken und die Frage, wie sie am besten abzudecken sind. Es geht um die Einschätzung des Risikos anhand Schadenhöhe und Schadenhäufigkeit. Zentral ist dabei, ob ein Ereignis existenzbedrohend ist. Kleinere Bedrohungen sollte eine Firma möglichst selbst übernehmen oder andere Massnahmen ausserhalb einer Versicherung treffen.
Die Broker sind in der Unternehmensversicherung ein wichtiges Sprachrohr für die Kunden. Wo sehen Sie den grössten Mehrwert?
Wir beraten ganzheitlich. Es wird beispielsweise nicht einfach eine Haftpflichtpolice platziert, sondern das gesamte Risikoumfeld analysiert.
Unternehmen entwickeln sich weiter. Entsprechend gibt es auch neue Bedürfnisse. Wie reagieren Brokerfirmen darauf?
Es gehört zu unseren Kernaufgaben, die veränderten Anforderungen proaktiv zu erkennen und mit einfachen, schnellen Lösungen die notwendigen Schritte einzuleiten. Voraussetzung dafür ist eine gute Kenntnis des Kunden und des wirtschaftlichen Umfelds in der dazugehörenden Branche sowie ein umfassender Einblick in das Versicherungsangebot.
Die Verantwortlichen in den Unternehmen möchten den Broker nicht einfach nur wegen einer Ausschreibung in Anspruch nehmen. Sie wollen sein Know-how ganz generell nutzen. Sind das vor allem Dienstleistungen im Risikomanagement?
Ja, der Broker erarbeitet Deckungskonzepte, die individualisiert auf den Kunden abgestimmt sind. Wir entwickeln gemeinsam eine kohärente Risiko- und Versicherungspolitik. Dazu gehören auch rechtliche und regulatorische Fragen. Über unseren Netzwerkpartner Marsh können wir zudem auch sämtliche internationalen Aspekte berücksichtigen. Im Schadenfall müssen wir dem Kunden schnell und effizient zur Seite stehen. Der Mehrwert des Brokers bei einer Ausschreibung liegt unter anderem in den Kenntnissen der Versicherungsmärkte und -bedingungen. Wenn ein Einzelkunde einmal alle drei Jahre eine Haftpflichtversicherung ausschreibt, hat er einen Datenpunkt. Bei uns erfolgen in diesem Segment pro Jahr über 400 Ausschreibungen. Die dabei gewonnenen Erfahrungen können wir gezielt für unsere Kunden einsetzen.
Können Broker die Versicherer zur Innovation antreiben?
Durchaus. Das sehen wir als zentrale Aufgabe. Ein Broker versucht ständig, mit den Versicherern und anderen Partnern neue Wege zu beschreiten. Dazu gehört auch die Prävention. Ein typisches Beispiel ist die Cyberversicherung. Wir haben bereits vor sechs Jahren begonnen, vermehrt in dieses Themenfeld zu investieren. Dies aus der Überzeugung, dass uns die Cybersicherheit langfristig beschäftigen wird.
In welchen Bereichen sehen Sie bei der Assekuranz den grössten Erneuerungsbedarf?
Neben den Produkten gibt es erhebliches Effizienzpotenzial bei der Zusammenarbeit zwischen Kunden, Broker und Versicherer. Das gilt speziell für die analogen Prozesse und die Legacy-Systeme auf alten Technologien. Diese Schnittstellen müssen effizienter gestaltet und durchgehend automatisiert werden.
Wie sieht es auf Unternehmerseite aus? Sind die Führungskräfte genügend stark für Risiken sensibilisiert?
In der Schweiz ist der Verwaltungsrat von Gesetzes wegen verpflichtet, eine Risikobeurteilung durchzuführen. Es besteht auch eine entsprechende weitgehende Organhaftung. Allein schon deshalb gibt es eine starke Sensibilisierung für eine laufende Risikobeurteilung. Bekannte Risiken lassen sich dabei besser einschätzen als neue Gefahrenherde wie etwa Cyberrisiken.
Mit der Corona-Pandemie ist jüngst ein «neues» Risiko dazugekommen. Wie geht man damit um?
Wichtig ist zunächst, dass nun die vorbereiteten Notfallpläne auch greifen. Versicherungstechnisch fehlt bei der Corona-Pandemie bei klassischen Betriebsunterbrechungsversicherungen oft der Trigger beziehungsweise die Schadenursache. Ins Spiel kommen daher insbesondere Kranken-, Reise-, Epidemie-, Eventausfall- und Kreditversicherungen, sofern Pandemien nicht ausgeschlossen sind.
Werden Versicherungsverträge regelmässig überprüft und neu ausgeschrieben?
Ja, das gehört zu den kontinuierlichen Aufgaben des Versicherungsbrokers. Bei unseren Kunden überprüfen wir die Versicherungsverträge kontinuierlich und besprechen sie mindestens einmal jährlich. Geklärt wird dabei auch, ob sich die Geschäftstätigkeiten verändert haben und der Versicherungsschutz entsprechend anzupassen ist.
Welche Rolle spielt der Preis einer Versicherungspolice?
Wir empfehlen unseren Kunden, bei der Auswahl des Partners auf bestimmte Platzierungskriterien zu achten. Dazu gehören die Bonität des Versicherers, der Deckungsumfang, die Abwicklung im Schadenfall, weitere Dienstleistungen sowie bewusst an letzter Stelle die Prämienhöhe. Der Preis ist ein wichtiges Entscheidungsmerkmal, aber die anderen Faktoren dürfen nicht vernachlässigt werden.
Wie bedeutungsvoll stufen die Kunden das Entschädigungsmodell der Broker via Courtagen oder Honorare ein, das derzeit im Vorsorgegeschäft heftig debattiert wird?
Auf den Vertragsabschluss einer Versicherungspolice sollte das keinen Einfluss haben. Wichtig ist, primär die richtige Versicherungslösung für den Kunden zu finden. Bei der Entschädigung gilt absolute Transparenz und Offenlegung, die im Vorsorgegeschäft übrigens auch gesetzlich geregelt ist. Wir agieren in einer freien Marktwirtschaft und die Nachfrage nach unseren Dienstleistungen ist ungebrochen hoch.
«Die Brokerbranche geht weg von einem transaktionsbestimmten Geschäft hin zu einem Beratungsgeschäft.»
Die Digitalisierung beeinflusst auch die Versicherungsbroker. Muss sich der Berufsstand neu erfinden?
Wir müssen uns immer neu erfinden. Insgesamt geht die Brokerbranche weg von einem transaktionsbestimmten Geschäft hin zu einem Beratungsgeschäft. Wenn der Berufsstand auch künftig erfolgreich sein will, muss er in allen Sparten die Beratung intensivieren. Die Platzierung einer Police allein bezahlt der Kunde nicht, sondern nur das Gesamtpaket mit innovativen Deckungskonzepten und einer umfassenden Beratung.
Über die neuen digitalen Verkaufskanäle können die Versicherer direkt mit den Kunden in Kontakt treten. Braucht es den Versicherungsbroker bald gar nicht mehr?
Wer als Broker einen Mehrwert erbringt, braucht sich um die Zukunft nicht zu sorgen. Das Risikoumfeld ändert sich für ein Unternehmen täglich und wird immer komplexer. Wenn sich ein Broker auf das Beratungsgeschäft und die Risikobeurteilung konzentriert, bleibt er ein wichtiger Partner für die Unternehmen. Hingegen sollten wir bei Bagatellschäden nicht Postbote zwischen Kunde und Versicherer spielen.
Ist das Brokergeschäft heute vor allem stark technologiegetrieben oder in erster Linie weiterhin ein People Business?
Unser Geschäft basiert wesentlich auf Vertrauen. Wir sind ein professioneller Vermittler zwischen einem Unternehmen und einem Versicherer. In dieser Hinsicht ist es ein People Business. Aber die IT ist ein wichtiger unterstützender Faktor.
Wo ist Beratung durch den Broker speziell gefragt?
Viele Kunden wünschen eine ganzheitliche Beratung in Risiko- und Versicherungsfragen. Andere verfügen über ein professionelles Risikomanagement intern. Da arbeiten wir punktuell mit Speziallösungen. Besonders gefragt sind die umfassenden Marktkenntnisse eines Brokers.
Es gibt immer mehr Standardversicherungen, die sich via Internet per Mausklick abschliessen lassen. Heisst dies, der Broker konzentriert sich vor allem auf komplexe Versicherungslösungen für grössere Firmen?
Bei uns ist das sicher ein Kerngeschäft, aber wir richten unsere Lösungen mit interessanten Deckungen zu attraktiven Preisen auch auf die KMU-Kundschaft aus.
In der Schweiz gibt es rund 1400 Brokerfirmen, die meisten davon mit weniger als einem halben Dutzend Beschäftigten. Erwarten Sie in den nächsten Jahren angesichts der wachsenden Regulierung, einer fortschreitenden Digitalisierung und sinkender Margen eine stärkere Konzentration?
Diese Konsolidierung ist schon vor einigen Jahren in Gang gekommen. Es gibt aber in der Branche immer noch eine relativ grosse Fragmentierung. Das hängt auch damit zusammen, dass die Eintrittshürden zur Eröffnung einer Brokerfirma relativ niedrig sind.
Plant Kessler & Co als einer der Marktführer, die Akquisitionstätigkeit zu verstärken?
Wir haben – auch in der jüngeren Vergangenheit – immer wieder Zukäufe getätigt und wir beobachten und evaluieren entsprechende Akquisitionsmöglichkeiten kontinuierlich. Eine Akquisition wird nur vollzogen, wenn der strategische, finanzielle und kulturelle Fit stimmen.
«Die Brokerbranche geht weg von einem transaktionsbestimmten Geschäft hin zu einem Beratungsgeschäft.»
Erschienen im Special Unternehmensversicherungen der Handelszeitung Nr. 17 vom 23.4.20.