Frau Tremp, was lässt Sie glauben, dass die Schweiz in der Gesundheitsdigitalisierung hinter anderen Branchen und Ländern zurückliegt?
Es handelt sich nicht nur um eine persönliche Einschätzung – sowohl Studien und internationale Vergleiche als auch die Interviews für unsere aktuelle Publikation zeigen deutlich: In der digitalen Transformation des Gesundheitswesens hat die Schweiz noch grossen Aufholbedarf. Deshalb wurde etwa das Programm DigiSanté unter der Leitung des Bundes ins Leben gerufen.
Während Branchen wie Finanzen oder Unterhaltung durch internationalen Wettbewerb und Kundenerwartungen angetrieben werden, fehlen im Gesundheitswesen vergleichbare Anreize. Zudem erschweren komplexe Strukturen und föderale Unterschiede eine koordinierte Umsetzung. Länder wie Dänemark und Estland zeigen, dass mit klaren Standards, gezielten Investitionen in die digitale Infrastruktur und einem pragmatischen Vorgehen grosse Erfolge möglich sind. Entscheidend ist nun, dass die Verantwortlichen den Mut haben, schrittweise voranzugehen und die zentralen Herausforderungen konsequent zu adressieren.
Wie lässt sich Ihrer Meinung nach der Föderalismus überwinden, ohne die zentrale Steuerung zu gefährden?
Der Föderalismus soll nicht «überwunden» werden, er ist eine Grundlage unserer Demokratie. Er ermöglicht Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, kann aber zu ineffizienten Insellösungen führen. Die Umsetzung des elektronischen Patientendossiers zeigt die Herausforderungen eines dezentralen Ansatzes in der Digitalisierung. Im Gesundheitswesen braucht es deshalb nationale Standards für digitale Interoperabilität, ohne dabei die föderalistische Organisation infrage zu stellen. Ein weiterer Ansatz könnte sein, kantonale Initiativen stärker zu koordinieren, indem gezielte Anreize und gemeinsame technische Grundlagen für die Digitalisierung geschaffen werden.
So lassen sich Synergien schaffen, während gleichzeitig die bewährten föderalen Strukturen erhalten bleiben. Dänemark hat gezeigt, dass ein einheitlicher Rahmen mit föderaler Umsetzung erfolgreich sein kann – die Schweiz sollte davon lernen.
Die grösste Herausforderung ist nicht die Technologie, sondern die noch fehlenden Standards und die noch unzureichende Koordination.
Karin Tremp, Principal bei Boston Consulting Group.
Ein Finanzierungssystem, das sowohl Prävention als auch Digitalisierung fördert. Wie könnte dies konkret aussehen?
Unser Vergütungssystem ruht in sich. Der Fokus unseres Gesundheitswesens liegt mehrheitlich auf erbrachten Leistungen und setzt so kaum Anreize für präventive Massnahmen oder digitale Innovationen. Solange dies so bleibt, fehlen finanzielle Impulse für eine nachhaltigere, integriertere Versorgung. Eine stärkere Verknüpfung der Vergütung mit Gesundheitsoutcomes – etwa durch erfolgsabhängige Zahlungen und Qualitätsmonitoring – könnte Patientenzentrierung, Prävention und Digitalisierung gezielt fördern.
Karin Tremp ist Principal bei Boston Consulting Group BCG. Sie ist spezialisiert auf digitale Transformation, Analytik und Change Management – mit langjähriger Erfahrung in der Finanzdienstleistungs- und Gesundheitsbranche.
Es braucht also gesetzliche und technische Massnahmen für eine nationale, interoperable Datenplattform.
Ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen lebt nicht nur von Digitalisierung und Datennutzung, sondern ebenso von einer starken interprofessionellen Zusammenarbeit – und von gut informierten Patienten, die sich im System zurechtfinden und aktiv einbringen können. Digitale Lösungen können dabei gezielt die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken, etwa durch verständliche Informationen und eine transparente Kontrolle über die eigenen Gesundheitsdaten. Eine nationale, interoperable Datenplattform ist hierfür ein zentraler Baustein. Auch für die medizinische Forschung. Entscheidend ist dabei, dass nicht allein die technologische Umsetzung im Fokus steht, sondern auch gezielt das Vertrauen der Bevölkerung in Datensicherheit und Selbstbestimmung gestärkt wird.
Hier geht es zur Studie Advancing the Swiss Healthcare System – Insights from Industry Experts and Emerging Best Practices.
Wie können digitale Lösungen die Personalnot lindern, und ist ihre flächendeckende Einführung realistisch?
Der Fachkräftemangel im Medizinbereich wird durch die steigende Zahl chronischer Erkrankungen und strukturelle Herausforderungen verstärkt, die mit Effizienzsteigerungen allein nicht gelöst werden können. Digitale Lösungen können jedoch administrative Prozesse automatisieren, Dokumentationsaufwand reduzieren und eine bessere Vernetzung ermöglichen.
Telemedizin, KI-gestützte Assistenzsysteme oder optimierte Planungstools entlasten das Personal und schaffen mehr Zeit für die direkte Patienteninteraktion und -betreuung. Konkret: Dank digitaler Unterstützung können sich z.B. Rettungssanitäter im Einsatz effizienter mit beratenden Ärzten und Notfallzentren austauschen. Das steigert die Effizienz und Sicherheit der Patientenversorgung erheblich – und kann Leben retten.
Woran hapert es denn?
Die grösste Herausforderung ist nicht die Technologie, sondern die noch fehlenden Standards und die mangelnde Koordination. Digitale Lösungen müssen gezielt in die alltägliche Versorgung integriert werden, um Wirkung zu entfalten. Gleichzeitig bietet die Digitalisierung neue Chancen für die interprofessionelle Zusammenarbeit – etwa zwischen Apothekern, Advanced Practice Nurses (APN) und Ärzten.
Reden wir über das DRG-System: Wie lässt sich das Fallpauschalensystem reformieren, um Effizienz und Fairness zu verbessern?
Das Fallpauschalensystem hat Effizienzgewinne gebracht, doch es fördert operative Optimierung und kann Fehlanreize setzen. Ein Hybridmodell, das SwissDRG-Fallpauschalen mit qualitätsorientierter Vergütung kombiniert – basierend auf Messgrössen wie PROMs – wäre ein möglicher Ansatz. Moderne Technologien ermöglichen es, Behandlungsqualität und Patientenergebnisse präziser zu messen – dieses Potenzial empfehle ich zu nutzen. Es schafft ein gerechteres und nachhaltigeres Finanzierungssystem, das den Patienten in den Fokus rückt.
Dänemark und Estland haben erfolgreich demonstriert, dass Digitalisierung im Gesundheitswesen funktioniert.
Karin Tremp, Principal bei Boston Consulting Group.
Künstliche Intelligenz könnte hier eine Hebelwirkung erzeugen.
Absolut. KI wird bereits in der Patienteninteraktion, Telemedizin, für medizinische Zweitmeinungen oder in intelligenten Triage-Systemen genutzt. Der nächste Schritt wäre eine gezielte Skalierung erfolgreicher Vorhaben und die Förderung von Innovationen in der klinischen Entscheidungsunterstützung. KI hat das Potenzial, Prozesse effizienter zu gestalten und die Versorgungsqualität zu verbessern – es braucht jedoch klare Leitplanken für den verantwortungsvollen, ethischen Einsatz.
Dabei zeigte die letzte Pandemie: Die Telemedizin funktioniert. Warum fehlt es trotzdem an nachhaltigen Finanzierungsmodellen?
Die Pandemie hat eindrucksvoll gezeigt, dass Telemedizin flächendeckend einsatzfähig und essenziell für die Gesundheitsversorgung in Krisenzeiten ist. Jetzt gilt es, das Vertrauen der Patienten in digitale Gesundheitslösungen zu stärken und die technologische Infrastruktur gezielt weiterzuentwickeln. Sofern der Tardoc in geplanter Form eingeführt wird, würden telemedizinische Konsultationen als Grundleistungen anerkannt und könnten über die Krankenversicherung abgerechnet werden.
Was machen Dänemark oder Estland Ihrer Meinung nach besser als die Schweiz?
Dänemark und Estland haben erfolgreich demonstriert, dass Digitalisierung im Gesundheitswesen funktioniert. Voraussetzungen sind: Klare Strategie, technische Standardisierung und, das ist das Wichtigste und Schwierigste, politische Entschlossenheit.
Dänemark hat eine nationale, interoperable Gesundheitsdateninfrastruktur geschaffen, während Estland mit einem vollständig digitalen Patientendossier arbeitet, welches bereits 95 Prozent aller medizinischen Daten der Bevölkerung auf einer zentralen Plattform speichert. Die Schweiz kann und soll sich daran orientieren und das Beste aus diesen Erfolgsmodellen für die Digitalisierung des Gesundheitswesens verwenden.
Hand aufs Herz: Glauben Sie überhaupt noch an Reformen im hiesigen Gesundheitswesen?
Reformen im Gesundheitswesen sind eine enorme Herausforderung. Niemand möchte den nächsten grossen Schritt machen und sich die Finger verbrennen. Zudem wird der Reformnotstand oft als noch zu klein wahrgenommen. Aber das wird sich ändern. Der Schlüssel liegt in klaren Zielbildern, finanziellen Anreizen für Innovation und einer engen Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und der Privatwirtschaft. In meiner Arbeit erlebe ich zudem täglich, wie Menschen das Gesundheitswesen unermüdlich gestalten und vorantreiben. Insofern lautet meine Antwort klar: Ja.