Die Zahlen lassen aufhorchen: Mit dem Ausbruch von Corona ist die Lebenserwartung erstmals seit 1944 respektive bei den Frauen seit 1962 wieder gesunken. Das Bundesamt für Statistik hat im ersten Pandemiejahr 2020 für Männer einen Rückgang der Lebenserwartung bei Geburt von 0,9 Jahre auf 81 Jahre und für Frauen von 0,5 Jahre auf 85,1 Jahre registriert.
Ist das eine Trendwende? Für Altersforscher François Höpflinger lassen zwei Jahre Pandemie noch keine langfristigen Prognosen zu: «Die in den letzten Jahrzehnten festgestellte Zunahme der Lebenserwartung im Rentenalter dürfte vorübergehend gestoppt werden.» Allerdings kann daraus nicht auf die zukünftige Entwicklung der Sterblichkeit geschlossen werden. Über mögliche finanzielle Entlastungen für die Pensionskassen wird aber zumindest nachgedacht. Kate Kristovic, Pensionskassenexpertin beim Beratungsunternehmen Libera, sieht keine nachhaltigen Auswirkungen: «Der langfristige Trend der Zunahme der Lebenserwartung in der Schweiz dürfte durch die Corona-Pandemie nicht gestoppt oder gar rückläufig werden.»
Mutationen des Coronavirus
Aufgrund der wöchentlichen Todesfälle in der Altersgruppe 65 Jahre und älter (siehe Grafik) lässt sich eine erste Phase der Übersterblichkeit von März bis April 2020 beobachten, die vergleichbar ist mit einer starken Grippewelle wie etwa 2015. Aussergewöhnlich hoch war danach die Übersterblichkeit von Oktober 2020 bis Januar 2021. In den anschliessenden Monaten Februar bis Juli war aber eine Phase der Untersterblichkeit zu verzeichnen, bevor die Todesfälle in der zweiten Jahreshälfte 2021 wieder deutlich zunahmen. Willi Thurnherr, CEO Retirement Solutions bei Aon Schweiz, gibt sich bei der Interpretation der jüngsten Entwicklungen vorsichtig und mag auch keine übereilten Schlüsse ziehen. Es sei offensichtlich, dass die Pandemie zu zusätzlichen Todesfällen und damit zu einer Verringerung der Lebenserwartung geführt habe. Auf der anderen Seite könnten verschiedene Massnahmen und Verhaltensänderungen zu einer Erhöhung der Lebenserwartung führen. «Es ist aus heutiger Sicht schwierig zu sagen, welcher Effekt stärker sein wird als ein anderer, und die verschiedenen Generationen werden nicht in gleicher Weise betroffen sein.»
Wirksamkeit der Impfstoffe
Die Lebenserwartung im Rentenalter 65 hat seit der statistischen Erfassung ab 1900 markant zugenommen. Dabei gab es immer wieder Phasen, in denen die Lebenserwartung stagnierte oder rückläufig war. Gründe dafür waren unter anderem starke Grippewellen oder Hitzeperioden. Entsprechend vermutet Christoph Furrer, Pensionskassenexperte bei der Beratungsfirma Deprez, dass die Corona-Pandemie langfristig und analog zur Spanischen Grippe in den Jahren 1918 und 1919 keine Auswirkung auf die Lebenserwartung haben wird: «Dabei ist es allerdings unklar, ob eines Tages die Pandemie vorbei sein oder ob und mit welchen Auswirkungen sie andauern wird.» Im Fall von Covid-19 sind vor allem die neuen Mutationen des Virus sowie die Wirksamkeit der aktuellen oder neuer Impfstoffe massgebend für die künftige Entwicklung.
Biometrische Grundlagen
In der beruflichen Vorsorge basieren die Berechnungen der Verpflichtungen einer Pensionskasse auf biometrischen Grundlagen wie etwa der Wahrscheinlichkeit zu sterben oder invalid zu werden. Die Lebenserwartung beeinflusst dabei die spätere Rentengestaltung. Für die öffentlich-rechtlichen Kassen massgebend sind die technischen Grundlagen VZ 2020. Im Vergleich zu den vor fünf Jahren publizierten Grundlagen hat die Lebenserwartung bei Männern und Frauen erneut deutlich zugenommen, obwohl im Zeitraum ab Mitte Oktober bis Ende Dezember 2020 eine markante Übersterblichkeit zu verzeichnen war. Die Todesfälle in diesen letzten Monaten des Jahres wurden weggelassen.
Übersterblichkeit ist immer möglich
Für Christoph Furrer, Mitverfasser der Grundlagen VZ 2020, ist es durchaus möglich, dass die Lebenserwartung in der nahen oder fernen Zukunft einmal nicht mehr weiter zunehmen könnte. «Im Rahmen des Vorsichtsprinzips, mit dem Pensionskassen finanziell geführt werden müssen, wäre es jedoch mit den heute vorliegenden Informationen fahrlässig, anzunehmen, dass dies bereits jetzt oder demnächst der Fall ist.» Aus seiner Sicht gibt es im langjährigen Trend keinen Hinweis darauf, dass die Zunahme der Lebenserwartung gestoppt ist, obwohl dies in den letzten Jahrzehnten schon verschiedentlich angenommen wurde. «Diese Annahmen waren bis jetzt immer falsch.»
Die Ungewissheit über den Einfluss der Corona-Pandemie begleitet derzeit die Arbeiten zur Erhebung der Daten von 2020 bis 2024 für die technischen Grundlagen BVG 2025, an denen sich die privatrechtlichen Pensionskassen orientieren. Dabei räumt Kate Kristovic durchaus ein: «Solange keine Herdenimmunität gegen das Coronavirus in der Bevölkerung vorliegt, ist eine zukünftige ausserordentliche Phase der Übersterblichkeit immer möglich, falls die einschlägigen Eindämmungsmassnahmen verspätet ergriffen werden.»
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