Die Pensionierung ist ein weitreichendes Lebensereignis: Rund um den 65. Geburtstag plus minus ein, zwei Jahre switchen bei den vormals arbeitenden Menschen die Einkommensverhältnisse fundamental. Anstelle der Erwerbseinkommen abzüglich Vorsorge- und Sozialleistungen treten Vorsorge- und Sozialleistungen plus eventuelle weitere Einnahmen aus Wertschriften, Immobilien und dergleichen.
Das, was vor der Pensionierung angespart wurde, gibt weitgehend vor, wie Menschen anschliessend leben. Und weil dieser Zeitpunkt für viele Menschen, die jünger als 50, 55 Jahre alt sind, noch weit weg erscheint, ergeben sich bei vielen Menschen mit der Pensionierung spürbare Rückgänge des zur Verfügung stehenden Haushalteinkommens.
Frühe Events, späterer grosser Effekt
Akzentuiert werden die Rückgänge der nach dem Pensionseintritt zur Verfügung stehenden Einnahmen einerseits durch vorgezogene Vorsorgegelder, beispielsweise für Immobilienkäufe. Zahlreiche weitere individuelle biografische Weichenstellungen kommen hinzu, allen wirken mit jahrzehntelanger Verzögerung auf die Zeit vor und nach der Pensionierung: Sie stammen aus Zeiten von Schul- und Berufswahlzeit, sie hängen von individuellen Studienentscheidungen, Partner- und Familienmodellwahl sowie von weiteren Lebensereignissen wie Scheidungen, Todesfällen und Erbschaften ab.
Anderseits zeichnet sich keine fundamentale systemische Entspannung bei den Pensionssystemen ab: Selbst bei einer kontinuierlichen Zuwanderung vergrössert sich der Anteil der Menschen in der Schweiz, der in Pension geht, in dem kommenden 10, 15 Jahren weiter. Und wenn jetzt noch eine nennenswerte Zinswende eintritt, dann vergrössert das möglicherweise die Zinseszinseffekte und damit die langfristigen Sparmöglichkeiten junger Menschen.
Aber für die meisten Vorsorgeeinrichtungen würde ein nennenswerter Zinsanstieg einen Kursrutsch bei den Bonds auslösen. Die Folge: Unterdeckung bei vielen Kassen. Und das hätte auch Folgen für die Menschen, die vor der Pensionierung stehen. Höchste Zeit also für eine fundamentale Erneuerung des Pensionssystems.
Ausgangspunkt ist die Entkopplung von biologischem Alter und den sich daraus ergebenden finanziellen Veränderungen nach der Pensionierung. Ein wichtiger möglicher Stellhebel ist die Wahlfreiheit, das heisst, dass Menschen selber bestimmen können, wann genau sie in einem Zeitfensternvon 63 bis 68 Jahren in Pension gehen möchten. Eine Swiss-Life-Studie vom April 2021 stellte eine beträchtliche Streuung des Pensionseintritts rund um das gesetzlich vorgegebene Datum fest.
In einigen freien Berufen aus den Bereichen Medizin und Gesundheit beispielsweise arbeitet ein Viertel der Menschen in der Schweiz teilweise deutlich länger als bis 65 Jahre. Entscheidend ist gemäss dieser Studie die Flexibilität der Arbeitgeber.
Versteckte Assets berücksichtigen
Unangetastet bleiben individuelle Faktoren, soweit ihre unter Umständen gravierenden Folgen nicht durch bestehende Einrichtungen aufgefangen werden. Die Disruption der Pensionierung erfolgt auf zwei Wegen: einerseits durch den systematischen Einbezug illiquider Assets wie beispielsweise Immobilien,latent fälligen Lebensversicherungen, Erbschaften (bei einem Viertel der frisch pensionierten Menschen in der Schweiz lebt noch mindestens ein Elternteil), Kunstsammlungen, Oldtimer, Uhren und Schmuck sowie durch die Optimierung von Kapitalverzehr und Rentenbezügen.
Anderseits durch die frühzeitige Implementierung einer Kombination von digitalen Vorsorge-, Budget- und Spar-Tools, von Anreizen (Steuerabzügen und so weiter), Szenarien und Visualisierungen. Diese digitalen Komponenten sind längst entwickelt worden: Die Säule-3a-Apps, wie sie das Startup Viac erfolgreich lanciert und die ZKB mit Frankly fast ebenso erfolgreich imitiert hat, zeigen, dass und wie sich auch junge Menschen auf langfristig wirkende Themen einlassen, wenn sie mit den «richtigen» Mitteln angesprochen werden.
Langfristiges Denken funktioniert trotz allen Widerständen wie der Trägheit vieler Menschen, der Informations-und Reizüberflutung, der Finanz- und Altersaversion, der Gegenwartpräferenz, mangelnder Selbstdisziplin und zu hoch empfundener Komplexität der Themen. Das Sorgenbarometer der Credit Suisse wies bei der letzten Veröffentlichung im November 2020 Vorsorgethemen als die zweitgrösste Sorge von Menschen in der Schweiz aus (nach der Corona-Pandemie und vor Arbeitslosigkeit). Weitere langfristige Themen wie der Klimawandel bestimmen zunehmend das Denken und – gelegentlich – auch das Handeln der Menschen. Und Financial Wellness sowie Inklusion zählen zu den jüngeren wichtigen Bereichen eines umfassend definierten Wohlbefindens von Menschen: Dank einer Kombination von Wissen und Sparen sollen sich Menschen in der Gegenwart und der Zukunft wohlfühlen, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten frei entfalten und sich nicht ausgeschlossen fühlen.
Unterschiedliche Übergangsmodelle
Die Disruption des bisherigen Pensionssystems führt nicht zu einheitlichen Standardlösungen, sondern zu einer erhöhten Wahlfreiheit bezüglich des Eintritts der Pensionierung sowie der Ausgestaltung des Übergangs. Die Zielgruppe, Menschen über fünfzig, gilt inzwischen als fast genauso digitalaffin wie jüngere Menschen. Die Nachfrage nach der Disruption der bestehenden Pension steigt: In der Generation der Babyboomer besteht oft eine Kombination von Vorsorgelücken, nur teilweise abgestottertem Immobilienbesitz und dem Wunsch nach angemessenem Lebensstandard.
Viele für eine Disruption des bestehenden Pensionssystems erforderlichen Tools und Apps sind bereits entwickelt worden. In den USA fallen sie in die Kategorie Retirement Planning: Es sind erweiterte Robo-Advisor, bei denen die Geldflüsse zum Pensionszeitpunkt einfach umgelegt werden.
Der Mensch denkt, die App lenkt
Anstelle der mit Budgeting-Tools optimierten Einzahlungen und des Vermögensaufbaus tritt dann der mit Tools unterstützte optimierte Vermögensverzehr. Bestehende Vorsorge-, Spar- und Personal-Finance-Management-Systeme liessen sich zu solchen grösseren Systemen verbinden. Selbst die erste Säule lässt sich, wenigstens statisch, hier einbinden. Bemerkenswerterweise regt sich bei diesem Thema nur wenig bei den etablierten Finanzdienstleistern: Wenn sie die Schnittstellen offen organisieren – langsam kommen hier die Dinge in Bewegung –, ergeben sich grosse Potenziale, zumal viele Pensionierte eine attraktive Zielgruppe mit stabilen Einkommensverhältnissen sind. Neben Banken sind Versicherungen potenzielle Anbieter.
Möglicherweise kommt der Druck indes von anderen Einrichtungen. Zu nennen wären hier sorgfältig ausgestaltete Robo-Advisor von grösseren Asset Management-Unternehmen oder von Firmen, die HR-Dienste anbieten und mit solchen Services ihre Reichweite deutlich erweitern möchten.
Einkommensabstürze verhindern
Zu den bisherigen mehr oder weniger scharfen Rückgängen bei den Einkommen gibt es andere Optionen:
- Mit Umkehrhypotheken oder Spezialvarianten von Immobilienverkauf und lebenslangem Wohnrecht lassen sich in vielen Fällen die Einnahmen nach der Pensionierung auf einem hohen Niveau stabil halten.
- Das Gleiche gilt für eine plangemäss vorgenommene «Verflüssigung» von langfristig gebundenen illiquiden Assets.
- Ebenso lassen sich weitere latent vorhandene Assets wie absehbare Erbschaften, Lebensversicherungsauszahlungen in den Kalkulationen und der Handhabung der Pensionszahlungen berücksichtigen.
- Mit früher hoher Vorsorge lässt sich der gleiche Effekt erzielen: Wer etwa ab Anfang vierzig das frei verfügbare Haushaltseinkommen künstlich reduziert und die so geäufneten Reserven erhält, verspürt nach der Pensionierung ebenfalls keinen bedeutenden Rückgang der realen Einnahmen.
- Erst später eingeleitete Vorsorge ermöglicht die signifikante Reduktion der Lücke zwischen Erwerbs- und Pensionseinkommen. Tools und Budgetplanungen ermöglichen zudem gleitende, frühzeitig eingeleitete Übergänge anstelle abrupter Rückschläge.