Herr Dr. Weimann, Sie befassen sich seit geraumer Zeit mit dem Thema Hinweisgeberschutz aus der Perspektive von Investoren und Versicherungen. Was ist der Grund dafür?

Viele bekannte Whistleblower-Fälle haben eine Gemeinsamkeit. Oft gab es über einen längeren Zeitraum belastbare Hinweise, denen nicht nachgegangen wurde. Im Gegenteil, immer wieder waren die Hinweisgeber allen möglichen Repressalien ausgesetzt. Hier herrscht kein Problembewusstsein. Investoren und Versicherer müssen sensibler auf entsprechende Berichte in der Wirtschaftspresse reagieren! 

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Wozu führt das mangelnde Problembewusstsein?

Zu vermeidbaren Schäden bzw. entgangenen Gewinnen. Short Seller setzen auf erkennbare Unternehmenskrisen. Vielleicht gibt es auch eine politische Seite: Der Ausgang einiger Volksabstimmungen in der Schweiz zeigt möglicherweise einen Vertrauensverlust der „Wirtschaft“. Das mag auch mit diversen Skandalen zusammenhängen. Die aktuelle Nachrichtenlage bei der Credit Suisse ist hier auch zu reflektieren. 

Dr. Martin Weimann: Der Anwalt und Corporate-Governance-Praktiker befasst sich mit Whistleblowing. Er ist Referent an der ZHAW Compliance Tagung am 11.3.2022 zum Thema: «Hinweisgeberschutz aus Perspektive der Investoren und Versicherungen». Die Tagung richtet sich an Führungskräfte, welche rechtssicher für ihr Unternehmen handeln und Haftungsrisiken minimieren wollen. Ermässigte Tickets für HZ Insurance Leserinnen und Leser sind unter folgendem Link oder direkt unter tagung@whistletag.com erhältlich.

Was bedeutet das für Versicherungen oder unsere Altersvorsorge? 

Vor allem D&O Versicherungen werden nach „Unternehmenskrisen“ immer stärker in Anspruch genommen. Auch als Kapitalsammelstellen dürften manche Lebensversicherungen zum Beispiel durch das Wirecard Management geschädigt worden sein. Das trifft letztlich den Versicherten: Wenn die private Vorsorge nicht ausreicht, muss der Steuerzahler einspringen.  

Wie können Versicherungen und Investoren von Whistleblowern profitieren? 

Es geht darum, öffentlich zugängliche Informationen auszuwerten! Beispiel Wirecard: Die Financial Times hatte seit 2015 die richtigen Fragen aufgeworfen. 2016 hatten der Short-Seller Fraser Perring und Zatarra eine umfassende Studie erstellt. 2019 meldete sich Fahmi Quandir (Safkhet Capital) zu Wort. Sie hatten Informationen von Whistleblowern erhalten. Die Versicherungen hätten dann mit den Autoren auch mal sprechen können, die ja namentlich bekannt waren.

Und was hätten Versicherungen und Investoren dann machen können? 

Sie hätten die Informationen der Whistleblower nutzen können: Verkauf der Aktien bzw. Änderung der Versicherungsverträge. Das wäre zudem viel billiger und zuverlässiger als interne Untersuchungen gewesen. Auch hier hat sich gezeigt: shareholder activism sichert Gewinne und spart Geld! 

Was setzt ein effektives Whistleblowing voraus? 

Zwischen den Whistleblowern bzw. Mitarbeitenden und der Unternehmensleitung gibt es ein strukturelles Ungleichgewicht: Die Beharrungskräfte sind stark, manchmal verbunden mit krimineller Energie. Das führt dazu, dass potenzielle Whistleblower aus Angst vor Repressalien, Risiken und Nachteilen schweigen. Daher gibt es drei Mindestvoraussetzungen: ein unabhängiges externes Hinweisgebersystem, umfassenden Schutz der Hinweisgebenden und den Willen des Managements zur Aufklärung. 

Was sind die Chancen für die Unternehmen, ihre Investoren und Vertragspartner wie z.B. Versicherungen? 

Es beginnt mit einer akzeptierten und angenehmen Unternehmenskultur. Nur die „Akteure“ wollen z.B. Provisionen, unnötige Reisen und andere Formen der persönlichen Bereicherung. Oft werden auch sich bietende Geschäftschancen nicht genutzt oder – noch schlimmer – es kommt zu Betrug, Untreue und Bilanzdelikten. Doch genau das nutzt nur Einzelnen. Unternehmen und Aktionäre wollen Erträge und der Versicherer will keine Schäden regulieren. Ein anonymes Hinweisgebersystem hilft hier weiter. Es stimuliert und aktiviert die Selbstreinigungskräfte. Damit sichert es auch die Arbeitsplätze.

Nun wird mit dem Inkrafttreten der Whistleblower-Richtlinie der Schutz von Whistleblowern von der Kür zur Pflicht. Denken Sie, dass die gesetzliche Verpflichtung zu Veränderungen führen wird?

Dabei geht es auch um die Frage: Warum führt man ein Hinweisgebersystem ein? Wird man von der EU gezwungen? Oder ergibt der Hinweisgeberschutz einen sachlichen Grund? Es gibt einen faktischen Handlungsbedarf – wie große und kleine Fälle immer wieder zeigen! Wirecard, Dieselgate, CumEx und diverse Skandale im Finanzbereich sind keine Einzelfälle. Auch diverse Studien zur Wirtschaftskriminalität wie von KPMG oder PWC zeigen einen akuten Handlungsbedarf. Der Hinweisgeberschutz liegt im Eigeninteresse jedes Unternehmens. 

Gibt es Alternativen zum Whistleblowing? 

Whistleblowing ist jedenfalls eine besonders kostengünstige Form. In den letzten Jahren hat sich mehrfach gezeigt, dass Whistleblower belastbare Informationen liefern können. Das reduziert die Folgekosten für Rechtsverfolgung ganz erheblich. Man muss schon genau wissen, was man sucht. Daher überrascht es auch nicht, dass der neue Chef der Bundesanstalt für Finanzmarktaufsicht (BaFin) Mark Branson aus der Schweiz Whistleblowing zur Chefsache gemacht hat. Er überwacht den Umgang mit Informationen. 

Wie wirkt sich Whistleblowing auf das Betriebsklima aus?

Hinweisgeberschutz ist auch eine Frage der gelebten Corporate Governance. Wie geht man miteinander um? Was passiert nach einer Straftat? Es ist wie bei einem Skiunfall. Fährt man vorbei? Oder hält man an und holt wenigstens Hilfe? Das hat nichts mit Denunzieren zu tun! Studien zeigen, dass es den Whistleblowern meist auf die Sache ankommt. Dabei geht es um „minimalinvasive“ Eingriffe. Die tägliche Arbeit, das Miteinander der Kollegen und die Karrierechancen der Beteiligten dürfen nicht unnötig belastet werden. Schliesslich gibt es auch eine Unschuldsvermutung! 

Welche Unternehmensbereiche sind besonders anfällig für Straftaten, die Versicherungen und Investoren schaden?

Aktuelle Studien z.B. von KPMG und PwC zur Wirtschaftskriminalität in Deutschland zeigen, dass der Vertrieb, gefolgt von Finanz- und Rechnungswesen, IT, Lager/Logistik, Einkauf und Produktion anfällig sind. Besonders heikel wird es bei einer Involvierung des Managements selbst. Diese Daten zu den betroffenen Unternehmensbereichen werden in der Schweiz und in Österreich ähnlich sein. Hier empfiehlt es sich mit Wirtschaftsprüfern bei der Informationsbeschaffung zusammen zu arbeiten. Das gilt besonders dann, wenn nur einige wenige Mitarbeitende bestimmte Ereignisse kennen. Wichtig ist auch eine direkte Meldung an den Aufsichtsrat. 

Neben den grossen Fischen gibt es ja auch viele tagtägliche kleine Vergehen. Wie lautet Ihre Empfehlung, mit diesen umzugehen?

In allen Branchen gibt es grosse und kleine Fälle. Beim Einzelhandel werden zum Beispiel viele Ladendiebstähle den Mitarbeitenden zugeschrieben. Sie wissen am besten, was wo zu finden ist und wie die Kameras positioniert sind. Bei Swissair war selbst der kleinste Diebstahl aus der Bordküche ein Kündigungsgrund. Zur Prävention ist auch diesen Ereignissen nachzugehen. Besonders heikel sind sexuelle Übergriffe, die besondere Anforderungen an die weitere Aufarbeitung stellen. 

Was bedeutet das für das Management? 

Die Unternehmensleitung muss sich klar und deutlich für Compliance und Whistleblowing aussprechen, um die Selbstreinigungskräfte zu aktivieren. Es muss die eigenen Leute auch gut behandeln. Wer jedoch die eigenen Leute nicht anständig behandelt, darf sich nicht wundern, wenn er umgekehrt beklaut wird. Es ist eine Frage des täglichen Miteinanders.

Was konkret verlangen z.B. Investoren und Versicherungen? Und wie kann eine professionelle Lösung zum Schutz der Whistleblower dazu beitragen, diesen Anforderungen zu entsprechen? 

Versicherungen können eine Doppelrolle haben: Schutz vor Risiken und Kapitalanlage bei Lebensversicherungen. Investoren verlangen, dass ihr Geld „zur Erreichung des Gesellschaftszwecks“ wertsteigernd und ertragsorientiert eingesetzt wird. Bei erkennbaren Schadenslagen verlangt schon das Gesellschaftsrecht: Das Management muss handeln. Das gilt auch ohne die Vorgaben der EU zum Whistleblowing. Die Schäden durch Wirecard und CumEx wären früher begrenzt worden, wenn man den Hinweisen sofort nachgegangen wäre. Überall gibt es Fälle, in denen ein effektives Whistleblowing die Schäden hätte reduzieren können. 

Was sind die besonderen Chancen für Versicherungen? 

Versicherungen können Whistleblowing als Frühwarnsystem verstehen, wenn sie entsprechenden Hinweisen oder Presseberichten nachgehen. Vielleicht bietet es sich auch an, besonders qualifizierte Systeme bei der Prämienkalkulation zu berücksichtigen. 

Welche präventiven Massnahmen können Unternehmen für einen besseren Schutz von Versicherungen und Investoren ergreifen?

Nachhaltigkeit bedeutet im Schadensfall, dass Investoren, Versicherungen und Management so früh wie möglich reagieren: Prevent, detect und respond heisst die „Compliance-Trias“. Die Freundlichkeiten des Managements darf nicht wichtiger als der Schutz des Vermögens von Gesellschaft und Investoren sein. So entfaltet sich ein System dynamischer Sicherheit, bestehend aus repressiven und dynamischen Elementen. 

Welchen Schlussfolgerungen können sich aus CumEx, Dieselgate oder Wirecard für ein moderndes Hinweisgebersystem ergeben? 

Die Unternehmenskultur muss Whistleblowing nicht nur zulassen, sondern auch wollen. Volkswagen dient auch insoweit als Negativbeispiel. Bei mehr als zehn Millionen verbauten Motoren muss es Erkenntnisse bei Mitarbeitern von Volkswagen und bei Zulieferern gegeben haben. Daher hatte der Ministerpräsident von Niedersachsen und Aufsichtsrat bei Volkswagen, Stephan Weil, ja auch in einem Interview kurz nach dem Bekanntwerden von Dieselgate im Herbst 2015 eine „mangelhafte Unternehmenskultur“ moniert. Die Bereitschaft, auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen, sei „nicht ausreichend entwickelt“. Es ist aber nicht bekannt geworden, ob sich jemand gemeldet hat. Bei Wirecard wurde von Repressionen gegenüber Journalisten und Investoren berichtet. Und bei CumEx fehlte den Politikern wohl der Handlungswille. 

Hilft ein effektives Whistleblowing auch bei der Schadensbeseitigung? 

Whistleblowing ermöglicht es, das interne Wissen neu zu fokussieren. So war die Aufforderung von Herrn Weil bei VW schon eine sinnvolle Massnahme. Im Vordergrund stehen „minimalinvasive Arbeitsweisen“. Die Kenntnisse und Beweismittel sind ja im Unternehmen vorhanden. Damit reduziert ein funktionierendes Hinweisgebersystem auch die Folgekosten der Rechtsverfolgung ganz erheblich. Ausserdem schont es die betrieblichen Abläufe und das Betriebsklima. 

Haben Sie fünf konkrete Handlungsempfehlungen, wie Whistleblowing den Schutz von Versicherungen und Investoren verbessert?

1. Die Unternehmensleitung muss sich klar und deutlich für das Whistleblowing-System aussprechen. 2. Whistleblower sollten eine Belohnung bzw. Beteiligung an den Einsparungen (Incentivierung) erhalten. Schliesslich bekommt auch das Management eine Erfolgsbeteiligung! 3. Zum Schutz der Whistleblower empfiehlt sich ein eigener externer Ansprechpartner, der die Anonymität wahrt. 4. Der Aufsichtsrat muss die Mitteilungen von Whistleblowern zuerst erhalten. Und 5. Auch eine Rede- bzw. Ermittlungspflicht für Wirtschaftsprüfer bietet sich an. 

Welche positiven Nebeneffekte stellen sich mit einem effektiven Hinweisgeberschutz ein?

Dr. Weimann: Die Selbstreinigungskräfte werden aktiviert, wenn sich das Management klar und glaubwürdig zu dem Hinweisgebersystem bekennt und sich die Mitarbeitenden mit dem Unternehmen identifizieren. Eine Ansage wie „Betrug wächst wie Krebs – und wird bekämpft!» versteht jeder. Dann geht ein Ruck durch die Firma. Auch Investoren und Versicherer wollen ambitionierte Compliance-Systeme sehen. Nur dann sind sie nachhaltig. Damit geht es um ein lebendiges – und geldwertes Thema!