Die gegenwärtige Krise trifft die Weltbevölkerung ins Mark. Insbesondere die Schweiz, weil das Land seit über 70 Jahren eine Phase der inneren und äusseren Sicherheit geniesst. In der modernen Gesellschaft haben grosse Teile der Bevölkerung noch nicht erfahren, was existenzielle Unsicherheit heisst und dass es auch andere Zeiten als gute Zeiten gibt. Warner vor schlechten Zeiten wurden deshalb in den letzten Jahren zumeist nicht ernst genommen. Heute sehen wir, wie notwendig es ist, über genügend Schutzmasken zu verfügen, sprich ein Pandemielager aufzubauen und Präventionsmassnahmen für den GAU zu definieren. Vor einigen Jahren wären beinahe die Schweizer Schutzräume abgeschafft worden. Fukushima erinnerte rechtzeitig daran, dass es einen Bevölkerungsschutz braucht.
Wer in guten Zeiten vorsorgt, kommt besser durch Krisen. Die Schweizer Finanzminister mussten sich in den letzten Jahren immer wieder für unbudgetierte Überschüsse des Bundes rechtfertigen. Heute sind wir alle froh, dass dank der guten finanziellen Situation der Schweiz den gebeutelten KMU schnell und unbürokratisch geholfen werden kann. Auch die Schweizer Krankenversicherer haben vorgesorgt. Sie dürfen per Gesetz mit der obligatorischen Krankenpflegeversicherung keine Gewinne erwirtschaften, sind aber dazu verpflichtet, Reserven für Notlagen, unvorhergesehene Kostenentwicklungen, Gesetzesänderungen oder andere ausserordentliche Situationen anzulegen. Heute verfügen alle Krankenversicherer zusammen über Reserven in der Höhe von 8,3 Milliarden Franken – dies entspricht rund 28 Prozent der jährlich durch die Krankenkassen geleisteten Zahlungen bzw. dem Leistungsaufkommen von drei Monaten. Sie sind die Garanten dafür, dass die Versicherer auch in ausserordentlichen Zeiten ihre Leistungen erbringen können.
Diese finanzielle Sicherheit passt jedoch nicht allen. Kritik am finanziellen «Notpolster» der Krankenversicherer kommt vor allem von Politikern aus der lateinischen Schweiz. Zahlreiche parlamentarische Vorstösse und Standesinitiativen haben nur ein Ziel: die Einschränkung der Reserven oder diese gar ganz abzuschaffen. Noch vor der Corona-Krise wurden in den Kantonen Genf, Waadt und Tessin Standesinitiativen lanciert, welche das heute funktionierende System gefährden. Der eine Vorstoss («Pour des primes conformes aux coûts») fordert bei zu hoch angesetzten Prämien deren Rückerstattung durch die Krankenversicherer. Wurden die Prämien zu tief angesetzt, soll für die Krankenversicherer jedoch keine Möglichkeit bestehen, die Finanzierungslücke durch eine Nachforderung zu decken. Wie das plötzliche Auftreten der Corona-Epidemie zeigt, sind Epidemien und deren finanzielle Folgen jedoch selten im Voraus abschätzbar.
Die zweite Initiative («Pour des réserves justes et adéquates») sieht die Plafonierung der Reserven vor. Gesetzlich sind die Krankenversicherer heute verpflichtet, Reserven anzulegen. Diese sollen es ihnen erlauben, ihre Leistungen während eines aussergewöhnlich schlechten Jahres aufrechterhalten zu können. Die meisten Versicherer weisen heute höhere Reserven als das gesetzliche Minimum aus. Die Initiative verlangt nun, dass die Reserven maximal 150 Prozent des gesetzlich vorgeschriebenen Wertes ausmachen dürfen. Kommt es zur angestrebten Gesetzesänderung, sollen Versicherer mit höheren Reserven verpflichtet werden, diese zurückzuerstatten. Was vergessen geht: Krankenversicherer zahlen bereits heute Millionen auf freiwilliger Basis zurück – dies auf der Basis des gut funktionierenden Wettbewerbs.
Staatliche Eingriffe in die Reserven der Krankenversicherer sind unnötig. Denn der Wettbewerb führt dazu, dass die Krankenversicherer ein grosses Interesse daran haben, die Prämien in der Grundversicherung möglichst tief anzusetzen respektive die allfälligen Überschüsse im kommenden Jahr durch Prämiensenkungen oder geringere Prämienerhöhungen zu kompensieren. Gleichzeitig sind die politischen Vorstösse hochriskant, zumal wir nicht wissen, wie lange sich die Corona-Krise noch auf unsere Gesundheit, unsere Bewegungsfreiheit und unsere Wirtschaft auswirken wird. Die Angriffe auf die Reserven können dazu führen, dass unser Krankenversicherungssystem ein Ereignis wie die Corona-Pandemie nicht mehr meistern kann. Diesem Risiko dürfen und wollen wir die Schweizer Bevölkerung und die Prämienzahlenden nicht aussetzen.
Wir werden uns wieder aufraffen, uns wieder in die Arme schliessen und uns wieder wegen Nebensächlichkeiten in die Haare geraten. Viele werden sich schnell im gewohnten Alltag wiederfinden. Doch eins sollten wir nicht vergessen: Dank Notvorräten – auf allen Ebenen – können auch die grössten Krisen besser überstanden werden.
Dr. Thomas J. Grichting ist Mitglied der Generaldirektion und Generalsekretär des Versicherers Groupe Mutuel sowie Vizepräsident von Santésuisse.