Herr Schönenberger, würden Sie sich von einem Roboter pflegen lassen?
Bereits heute unterstützen uns zahlreiche Systeme im Alltag, sei es bei der Navigation und als Fahrassistent im Auto, der Suche nach Inhalten im Web oder der Terminerinnerung. Es wird für uns ganz natürlich sein, dass es immer mehr Systeme gibt, die uns in den verschiedenen Lebensbereichen unterstützen, auch im Krankheitsfall.
In der Pflege kann ich mir sehr gut vorstellen, dass Roboter uns Menschen zuerst bei den «mechanischen» Aktivitäten helfen und später vielleicht auch in den psychologischen Bereichen. Der Austausch mit Menschen wird aber immer wichtig bleiben. Insofern würde ich mich durch einen Roboter oder ähnliche Systeme pflegen lassen – aber nicht ausschliesslich.
Rund die Hälfte der Personen, die an einer Umfrage mitgemacht haben, ist gleicher Meinung. Wie Sie vermutlich ahnen, habe ich diese Frage aus dem «Sanitas Health Forecast», Ihrer Publikation über die Gesundheit der Zukunft. Was bezwecken Sie mit diesem Werk?
Der «Sanitas Health Forecast» hat einen externen und einen internen Nutzen. Erstens gibt es kein solches Werk zum Thema Gesundheit der Zukunft. Wir haben Herr und Frau Schweizer sowie Experten deshalb gefragt, was ihre persönliche Sicht dazu ist. Der «Sanitas Health Forecast» ist somit kein wissenschaftliches Werk, sondern soll in seiner ganzen Breite zum Reflektieren anregen und für alle Generationen spannende Themen enthalten. Zweitens ist der Blick in die Zukunft für uns als Krankenversicherung wichtig – auch im Wissen darum, dass Prognosen manchmal falsch sind – als Grundlage für den strategischen Diskurs, beispielweise als Input für die Entwicklung von Produkten und Services.
Denken Sie tatsächlich, dass wir jemals gesunde 120 Jahre alt werden können, wie im Bericht aufgeführt?
Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich in der westlichen Welt von rund 40 Jahren im 19. Jahrhundert auf heute rund 80 Jahre verdoppelt. Der medizinische Fortschritt geht weiter und es wird daran geforscht, wie der Alterungsprozess nicht nur gestoppt, sondern umgedreht werden kann. Wissenschaftler suchen nach Möglichkeiten, den menschlichen Organismus dazu zu bewegen, seine alten, teilungsunfähigen Zellen zu entfernen. Bei Mäusen konnten bereits erste Erfolge zur Lebensverlängerung und gleichzeitiger Verminderung von Krankheiten erzielt werden. Zudem bin ich der Meinung, dass gesundheitserhaltende Verhaltensweisen und damit ein gesunder Lifestyle (weiter-)boomen werden. Ich bin optimistisch und glaube daran, dass uns die Fortschritte in der Medizin kombiniert mit unserem Streben, gesund zu leben, ein langes, gesundes und schmerzfreies Leben ermöglichen werden. Es gibt Prognosen, die sogar von mehr als 120 Jahren ausgehen.
«Idealerweise hat man ein langes und gesundes Leben, das dann schnell und schmerzlos endet – ohne lange Leidenszeit über Jahre hinweg.»
Gesund zu altern ist ja grundsätzlich eine tolle Sache. Doch wenn ich nur schon an die damit verbundenen Kosten für Renten und Gesundheit denke, wird mir flau im Magen. Denken Sie, dass die Bevölkerung und vor allem die Politik bereit sein werden, das Leben im Alter tatsächlich zu überdenken?
Idealerweise hat man ein langes und gesundes Leben, das dann schnell und schmerzlos endet – ohne lange Leidenszeit über Jahre hinweg. Bereits heute fallen die höchsten Gesundheitskosten in den letzten zwei bis drei Lebensjahren an, fast unabhängig vom Alter, in dem man stirbt. Wenn diese Lebensphase weiter verkürzt werden kann, steigt die Lebensqualität in den letzten Jahren und sinken die Gesundheitskosten signifikant. Genau hier kommt meines Erachtens das zunehmend gesundheitsbewusste Verhalten der Menschen (Preventive Health) ins Spiel, das mithelfen wird, dass wir länger gesund sein werden.
Die Politik und die Bevölkerung werden sich mit dem Thema Langlebigkeit und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft auseinandersetzen müssen. Sei dies beispielsweise bezüglich Rentenalter und Rentensysteme oder diesbezüglich, wie die Dynamik und der Veränderungswille in einer alternden Gesellschaft aufrechterhalten werden können. Wenn die Menschen länger gesund und leistungsfähig bleiben, werden sie länger arbeiten wollen als heute. Wir haben gar keine andere Wahl, als unsere Einstellungen und Systeme der neuen Realität eines langen Lebens anzupassen.
Sanitas lehnt sich ja ab und zu weit zum Fenster hinaus und kratzt an Tabuthemen. Etwa mit der kürzlich lancierten Zusatzversicherung, die Kinderwunschbehandlungen umfassend abdeckt, mit Bestandteilen wie künstlicher Befruchtung sowie genetischen Untersuchungen des Embryos. Was für ein Echo haben Sie erhalten?
Wir stellen unsere Kundinnen und Kunden und deren Bedürfnisse ins Zentrum unserer Strategie. Daraus ist unter anderem die Idee entstanden, ein solches Produkt zu entwickeln, um sich gegen hohe Kosten im Hinblick auf Kinderwunschbehandlungen absichern zu können. Es ist wichtig zu wissen, dass jedes sechste Paar mit Schwierigkeiten beim Kinderkriegen konfrontiert ist. Das Echo ist bisher sehr positiv und in den Medien wurde breit darüber berichtet. Es ging und geht uns auch darum, das Thema Kinderwunsch beziehungsweise Schwierigkeiten damit bis zur ungewollten Kinderlosigkeit zu enttabuisieren.
Wie geht es jetzt weiter mit Ihrer Zusatzversicherung zu Fruchtbarkeitsproblemen? Konnten Sie bereits Policen verkaufen?
Das Produkt Kinderwunsch ist Teil unseres Zusatzversicherungs-Produkteportfolios und wurde bereits erfolgreich verkauft.
«Die Gesundheitsdaten sind besonders schützenswerte Daten und wir gehen damit sehr sorgfältig um.»
Einloggen, surfen, Datenspuren generieren: Das ist die Realität der E-Gesellschaft – erst recht im Kontext der Corona-Pandemie. Zu solchen Themen hat Sanitas einen Monitor erstellt. Wie sehen die Menschen die Chancen und Risiken der Datengesellschaft?
Der Datenschutz ist sehr wichtig und streng geregelt im Gesundheitswesen. Die Gesundheitsdaten sind besonders schützenswerte Daten und wir gehen damit sehr sorgfältig um. Grundsätzlich helfen Daten, Einsichten zu gewinnen, und die Chancen, die sich aus einer datenbasierten Gesellschaft ergeben, überwiegen meiner Ansicht nach bei weitem die Nachteile.
Mithilfe von Daten und intelligenten Analysemethoden bis hin zu künstlicher Intelligenz können neue, wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden. Beispielsweise kann im Gesundheitswesen auf Basis einer kontinuierlichen Aufzeichnung von Gesundheitsdaten eine viel genauere Diagnose erstellt werden als auf Basis von einzelnen Momentaufnahmen. Bei gesunden Menschen kann mit dem Erfassen von Gesundheitsdaten früh Gegensteuer gegeben und so eine schwere Krankheit verhindert oder zumindest früh behandelt werden. Dieser «Preventive Health»-Trend wird deshalb noch an Bedeutung gewinnen – das ist eine riesige Chance für uns Menschen.
«Ich bin der festen Überzeugung, dass «digital mobile medicine» in vielen Bereichen des Gesundheitswesens an Bedeutung gewinnen wird.»
Die Schliessung von Schulen sowie Homeoffice haben in den letzten Monaten einen eigentlichen Digitalisierungsschub ausgelöst. Wird davon auch das Gesundheitssystem und damit Krankenversicherer profitieren?
Die Corona-Krise hat in vielen Bereichen als Katalysator gewirkt. Im Gesundheitswesen sind Ferndiagnosen und Fernbehandlungen mithilfe von mobilen, digitalen Geräten zunehmend akzeptiert. Ich bin der festen Überzeugung, dass «digital mobile medicine», das heisst Diagnosen, Behandlungen und Interaktionen mit medizinischen Experten über mobile Geräte, in vielen Bereichen des Gesundheitswesens an Bedeutung gewinnen werden. Digital mobile medicine wird sich meines Erachtens in der Medizin als wichtiges kostengünstiges Standbein etablieren.
Inwieweit könnte ein stärkerer Einsatz von Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen einen Beitrag zur Kostenreduktion leisten?
Wenn wir Kommunikationstechnologien in einem weit gefassten Kontext sehen, also beispielsweise den Einsatz von «wearable sensors» am Menschen, die Informationen an den Träger des Sensors und bei kritischen, chronischen Krankheiten wie Herzrhythmusstörungen an ein medizinisches Expertenteam weitergeben, dann sehe ich sehr viel Potenzial zur Kosteneinsparung. Dies vor allem dahingehend, früh Massnahmen initiieren zu können, um schwere, langfristige und kostenintensive Behandlungen möglichst zu verhindern. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Kosten selbst, sondern darum, den Menschen eine hohe Lebensqualität zu ermöglichen. Dass damit Kosten eingespart werden können, ist die logische Folge.
Im engeren Sinn helfen Kommunikationstechnologien, dass Informationen zwischen Patient und Arzt oder Spital schneller und effizienter ausgetauscht werden können oder dass mehr Informationen zusammenfliessen und verfügbar sind, sodass eine bessere Diagnose oder Behandlung ermöglicht werden kann. Auch das kann zur Kostenreduktion beitragen.
Ich gehe davon aus, dass Sie vor über einem Jahr primär dank Ihrem ausgeprägten Digitalisierungs-Know-how als CEO von Sanitas gewählt wurden. Korrekt?
Vor meiner Tätigkeit als CEO bei Sanitas war ich Mitglied des Verwaltungsrats und kannte deshalb Sanitas und das Krankenversicherungsgeschäft. Mein Wissen über die Digitalisierung hilft mir und spielt eine wichtige Rolle in meinem Job. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist in vollem Gange und wird viele neuen Möglichkeiten eröffnen. Diesen Wandel aus einer operativen Rolle heraus aktiv mitgestalten zu können, fasziniert mich und ist extrem spannend. Digitalisierung bedeutet auch, dass wir unsere Arbeitsweise und das Arbeitsumfeld anpassen müssen. Bei Sanitas habe wir – bereits vor Corona – Skype for business, Flex Desk und Kollaborationszonen eingeführt.
Wo stehen Sie derzeit mit der Sanitas-Digitalisierungsstrategie 2025?
Digitalisierung alleine ist keine Strategie. Unsere Strategie Sanitas 2025 geht davon aus, dass wir uns als Gesundheitspartner für unsere Kundinnen und Kunden etablieren wollen. Das heisst, wir möchten ihnen helfen, ihre Gesundheit selbstständig zu fördern, in der Prävention, im Krankheitsfall und danach. Und wir wollen dem Kunden und der Kundin Orientierung geben und den Zugang zum Gesundheitswesen so einfach wie möglich gestalten. Die Digitalisierung spielt dabei eine zentrale Rolle und beinhaltet einen breiten Veränderungsprozess bei Sanitas über alle Geschäftsbereiche hinweg. Trotz Covid-19 kommen wir gut mit der Umsetzung der Strategie voran.
Und was sind die nächsten Meilensteine?
Die genauen Details verrate ich hier nicht. Die Grundlagen für die Veränderungen sind teilweise geschaffen oder so weit definiert, dass wir nun darauf aufbauen können.
«Meine Neugierde, zu verstehen, wie die Welt «funktioniert», hat mich dazu bewogen, Physik zu studieren.»
Sie waren General Manager von Google Schweiz, CEO und Verwaltungsrat der Telekomfirma Salt, bei Mobilezone, Publigroupe und anderen. Wie kommt es, dass Sie als promovierter Physiker den Weg in die Krankenversicherung gefunden haben?
Meine Neugierde, zu verstehen, wie die Welt «funktioniert», hat mich dazu bewogen, Physik zu studieren. Dabei fasziniert mich, wie aus neuen Erkenntnissen Dinge – insbesondere technologischer Natur – entwickelt werden können, die die Welt verändern. In Unternehmen arbeiten zu können, bei welchen die Digitalisierung eine entscheidende Rolle spielt – ob als Chance oder Gefahr –, ist für mich faszinierend und spannend. Denn sie verändert die Welt fundamental. Und das Gesundheitswesen befindet sich aktuell mitten in diesem Wandel.
Die Sanitas Gruppe erzielte 2019 ein positives Unternehmensergebnis von 86,7 Millionen Franken und hat knapp 6000 neue Kundinnen und Kunden gewonnen. Wie haben Sie im Corona-Halbjahr 2020 gearbeitet?
Wir kommunizieren jährlich und unser Jahresbericht 2020 wird eine Übersicht zur Performance im laufenden Geschäftsjahr geben. Das Corona-Halbjahr war eine besondere Herausforderung. Ich bin aber sehr zufrieden, dass unser Tagesgeschäft stets hervorragend funktioniert hat, dass wir für unsere Kundinnen und Kunden immer erreichbar waren und wir auch in den Projekten gut vorankamen. Unsere Mitarbeitenden haben sich sehr gut auf die neue Situation eingestellt und – auch im Homeoffice – mit Begeisterung für Sanitas gearbeitet. Dies zeigen auch unsere neusten Mitarbeiterumfragen.