In der täglichen Zusammenarbeit hat die Digitalisierung seit der Pandemie merkliche Veränderungen gebracht. Welchen Einfluss hatte sie auf das Gesundheitswesen?
Auch die Krankenversicherer sind punkto Digitalisierung einen guten Schritt weiter. Bei Sanitas legen wir den Fokus auf die digitale Interaktion mit unseren Kundinnen und Kunden.
Und was dürfen die Kundinnen und Kunden erwarten?
Mit der digitalen Interaktion wollen wir sie dabei unterstützen, ihre Gesundheit selbstbestimmt zu fördern. Etwa mit Präventionsmassnahmen oder bei Bedarf mit der Suche nach geeigneten Leistungserbringern. Die Digitalisierung ist auch ein wichtiger Pfeiler bei unserer Kommunikationsarbeit rund um Gesundheitsthemen. Wir nutzen digitale Kanäle, um unseren Kundinnen und Kunden wertvolle und relevante Inhalte und Informationen zur Verfügung zu stellen.
Zur Person
Andreas Schönenberger ist seit Februar 2019 CEO der Sanitas Gruppe, für die er bereits von 2015 bis 2019 im Verwaltungsrat aktiv war. Vor seinen Tätigkeiten bei Sanitas war er CEO und anschliessend Verwaltungsrat bei Salt (Telekom), leitete Google Schweiz als Country Manager, arbeitete in der Strategieberatung bei der The Boston Consulting Group sowie bei der Monitor Group und war in der Forschung bei der ABB tätig. Zurzeit ist er Verwaltungsrat der Ascom Holding AG, Verwaltungsrat der Greater Zurich Area AG und Mitglied des Geschäftsleitungsausschusses der Universität St. Gallen (MCM-Institut). Andreas Schönenberger hält einen PhD in theoretischer Physik der ETH Zürich und ein MBA der London Business School inne.
Jetzt haben Sie vor allem über den digitalen Informationsfluss gesprochen. Wie sieht es beim elektronischen Patientendossier (EPD) aus?
Die Post hat im August 2022 die Mehrheitsbeteiligung beim EPD-Anbieter Axana übernommen und will dem Projekt Schub verleihen. Ich gehe davon aus, dass das EPD nun vorankommen wird.
Das tönt recht optimistisch … Was lässt Sie glauben, dass es mit dem EPD vorangeht?
Natürlich ist das EPD noch nicht dort, wo es sein müsste. Optimistisch bin ich aber, weil es nun bei der Post mit den anderen Health-Aktivitäten vereint ist. Das EPD ist eine grosse Chance, die wir packen müssen. Deshalb haben wir unsere Systeme und Schnittstellen entsprechend vorbereitet.
Wie integrieren Sie die Digitalisierung in die administrative Unterstützung der Kundinnen und Kunden ganz konkret?
Beispielsweise mit einer Übersetzungsfunktion im Sanitas-Portal: Damit können unsere Kundinnen und Kunden jede Rechnung eines Leistungserbringers in einer verständlichen Sprache nachvollziehen – also weitgehend frei von Fachbegriffen. So versuchen wir, die Versicherten in den Kontrollprozess zu integrieren. Unter anderem hat diese Dienstleistung dazu beigetragen, dass wir im vergangenen Jahr rund 360 Millionen Franken einsparen konnten. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Übersetzungsservices ist die Transparenz. Die Versicherten sehen, was die einzelnen medizinischen Leistungen tatsächlich kosten. Das wiederum sensibilisiert und appelliert an ihre Eigenverantwortung.
Es ist leider noch viel zu selten, dass man als Patient oder Patientin direkt einen Termin in der Arztpraxis buchen kann
Und wie sieht es punkto Journey mit der Anbindung anderer Stakeholder ans Ökosystem aus?
Es ist leider noch viel zu selten, dass man als Patient oder Patientin direkt einen Termin in der Arztpraxis buchen kann. Dafür gibt es noch zu viele verschiedene Systeme. Heute helfen wir unseren Versicherten primär mit Telemedizin. Das gleiche Problem gilt für die Spitäler: Diese sind untereinander grösstenteils digital vernetzt und uns elektronisch angebunden. Mit den Arztpraxen funktioniert das leider noch nicht überall gleich gut. Hier würden ein EPD und eine weitergehende Digitalisierung sicherlich helfen.
Lassen sich mit Transparenz, Information und optimierter Customer Journey auch Kunden und Kundinnen binden?
Die Anzahl wechselwilliger Personen hängt von der durchschnittlichen Prämienerhöhung in der Grundversicherung ab. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass 10 Prozent oder mehr die Versicherung wechseln, wenn die Prämienerhöhung über 6 Prozent liegt. Unser Ziel ist aber natürlich, mit unseren Services und Dienstleistungen die Kundenbindung zu verstärken.
Im vergangenen Jahr haben aber deutlich mehr Leute die Versicherung gewechselt …
Das stimmt. Die Prämien sind schweizweit im Schnitt bekanntlich um mehr als 6 Prozent gestiegen. Bei uns waren es nur etwas mehr als 3 Prozent, aber wir definieren uns nicht nur über den Preis, sondern auch über Qualität und unsere Services.
Wir zeigen unseren Versicherten klar, dass wir uns für ihre Gesundheit interessieren
Und die Versicherten sind tatsächlich bereit, das zu zahlen?
Wenn ich auf unsere steigenden Versichertenzahlen blicke, glaube ich, ja. Unsere Kundinnen und Kunden schätzen unsere Angebote. Wir stellen auch fest, dass digitale Health Services gut ankommen – unser preisgekröntes Kundenportal wird rege genutzt, Tendenz steigend. Dazu kommen, wie eingangs erwähnt, die inhaltlichen Themen, die wir auf unseren Kanälen ausspielen. Wir zeigen unseren Versicherten klar, dass wir uns für ihre Gesundheit interessieren, und bieten ihnen verschiedene Services, um ihre Gesundheit zu fördern. Das ist meiner Meinung nach zentral für die Kundenbindung. Wir sind keine reine Zahlstelle. Wir wollen zusammen mit unseren Kundinnen und Kunden erreichen, dass die Prämien weniger steigen und die Versicherten sparaffiner werden.
Wie beeinflussen neuen Regulierungen und Verordnungen die Digitalisierung?
Wer mehr reguliert, schränkt mehr ein. Es gibt sicher sinnvolle Regulierungen. Aber es gibt auch solche, die es nicht sind. Der Datenschutz hat sehr wohl seine Berechtigung. Man muss sich einfach überlegen, wie man diesen im Gesundheitswesen implementieren will, um einen zweckmässigen Informationsaustausch nicht zu verhindern. Grundsätzlich glaube ich an Systeme, die nicht zu stark reguliert sind, weil diese mehr Innovation und damit auch bessere Preise ermöglichen.
Mehr Augenmass wäre die Lösung. Wieso tut sich die Schweiz so schwer beim Datenschutz und bei der Digitalisierung?
Ein Grund ist sicher unsere Kultur und der Föderalismus. Dieser steht beispielsweise in keinem Vergleich zu den nordischen Ländern mit ihren riesigen Gesundheitszentren. Beim Datenschutz gibt es ebenfalls kulturelle Unterschiede. Wichtig scheint mir, dass auch die Schweizer Bevölkerung bereit ist, ihre Daten in anonymisierter Form zu teilen, wie etwa unsere jährliche Studie zum Thema «Solidarität und Datengesellschaft» zeigt. Im Gegenzug wollen die Versicherten aber einen Wert dafür erhalten.
Es geht also stark darum, ihnen die Sicherheit zu geben, dass mit den Daten sorgfältig umgegangen wird. Meines Erachtens ist das in der Schweiz gegeben.
Es hat den einen oder anderen Fehlanreiz im System
Nach wie vor herrscht bei den Konsumentinnen und Konsumenten die Haltung vor, möglichst viel vom Versicherer zu holen. Schliesslich zahlt man genügend Prämien …
Das scheint in der Tat eine Tendenz zu sein. Versicherte gehen nachweislich immer häufiger und schneller zum Arzt, weshalb die Leistungskosten und in der Folge die Prämien steigen. Weitere Treiber sind die höhere Lebenserwartung und die Mengenausweitung. Genau deshalb müssen wir aufklären, dass wir keine Sparanstalt sind, bei der Prämiengelder gehortet werden. Als Versicherer können wir nur Solidarität bieten, wenn unsere Versicherten auch Eigenverantwortung wahrnehmen. Wichtig ist auch, zu wissen, dass wir eine Stiftung sind und somit nicht gewinnorientiert.
Wir haben nach wie vor ein hervorragendes Gesundheitssystem in der Schweiz und eine gute Versorgung. Neben der modernen Medizin, die nicht nur kostet, sondern auch hilft, Kosten einzusparen, sind die Demografie, der Föderalismus sowie die Infrastrukturen weitere Kostentreiber. Letztere werden nicht national, sondern auf kantonaler beziehungsweise auf regionaler Ebene geplant und betrieben, was nicht optimal ist. Und dann hat es auch den einen oder anderen Fehlanreiz im System.
Was schlagen Sie vor?
Es braucht mehr Transparenz und mehr Eigenverantwortung. In Singapur etwa sind die Leistungskosten viel transparenter. Man weiss dort im Voraus, was eine Hüftoperation kostet. Die Menschen übernehmen so mehr Eigenverantwortung. Natürlich müssen wir nicht derart weit gehen. Doch als Gegenpol ist das ein System, dessen Preis und Leistung zeigt, dass die Menschen sich dann oftmals anders entscheiden.
Transparente Kosten sind das eine. Doch wie steht es um die Qualität der Eingriffe?
Hier gilt es, entsprechende KPI zu definieren. Einer davon könnte sein, dass man die Komplikationen oder Re-Hospitalisierungen nach Eingriffen misst. Ein anderer KPI wäre zum Beispiel, wie viele Operationen eine Ärztin durchgeführt hat. Für unsere Versicherten wünsche ich mir auch, dass sich da noch mehr bewegt. Man sollte wissen, welche Qualität man für welchen Preis erhält.
Ich glaube nach wie vor stark an die Zusatzversicherungen
Ein weiteres Problem ist die Kleinteiligkeit der Schweiz und unseres Gesundheitswesens. Sind regionale Cluster sinnvoll?
Ja, das finde ich. Aber auch da wird es wohl noch einen Mentalitätswechsel benötigen. Wir müssen dahin kommen, dass es sinnvoller ist, eine spezifische Operation in einem Spital zu machen, das über viel Erfahrung verfügt, und nicht in demjenigen, das vor der Haustür liegt. Vielleicht sollte die hoch spezialisierte Medizin nur an wenigen Orten stattfinden.
Wohin geht der Weg bei den Zusatzversicherungen?
Ich glaube nach wie vor stark an die Zusatzversicherungen. Vor allem im ambulanten Spitalbereich gibt es viel Potenzial. Daher haben wir unser VVG-Produkt Hospital Day Comfort lanciert. Mittlerweile finden in der Schweiz rund 25 Prozent der Eingriffe spitalambulant statt. In den USA sind es bereits etwa 60 Prozent. Aber auch in anderen Bereichen werden wir neue Services und Produkte anbieten. Stehen zu bleiben, wäre die falsche Strategie.
Wir haben viel über Transparenz gesprochen. Wo stehen Sie beziehungsweise die Sanitas im Prozess des Branchen-Frameworks?
Das Branchen-Framework ist eine gute Sache. Wir sind daran, es umzusetzen, auch in Bezug auf Preise und Verhandlungen. Dabei hatten wir schon vertragslose Zustände mit dem einen oder anderen Spital. Eine Knacknuss bleiben die Belegärzte und -ärztinnen. Aber wir haben nur wenig Handhabe. Ich wäre zudem für ein Zusammengehen von Spitälern.