Sie haben seit bald 30 Jahren mit den Themen Schäden und Risiken zu tun. Wie hat sich Ihr Berufsalltag als Risk Manager in den vergangenen Jahren verändert?
Die grösste Veränderung ist, dass Risk Management heute ganzheitlicher verstanden wird. Wurde früher noch von Risk Engineering gesprochen, betreiben immer mehr Unternehmen ein Enterprise Risk Management, bei dem das frühere Silodenken ausgedient hat.
Was meinen Sie damit?
Risk Manager sind heute meistens keine Versicherungseinkäufer mehr, die im stillen Kämmerchen vor sich hinarbeiten, sondern sichtbare Persönlichkeiten in einer Querschnittsfunktion. Heute besteht ihre Hauptaufgabe darin, den langfristigen Nutzen von Investitionen ins Risk Management innerhalb des Unternehmens aufzuzeigen, die Menschen dafür zu begeistern und eine Risk-Management-Kultur zu etablieren.
Beim Wort Risk-Management-Kultur erscheint vor meinem inneren Auge das Bild von einer stillstehenden Organisation, die aus lauter Angst vor Risiken gar nichts mehr macht …
So wie Ihnen geht es vielen Leuten. Das liegt daran, dass Risiken bei uns primär als gefährlich und unangenehm wahrgenommen werden und nicht als Herausforderungen und Chancen.
«Nachhaltiges Enterprise Risk Management ist ein Prozess, der alle Bereiche und Stufen im Unternehmen umfasst.»
Wie sieht denn eine zeitgemässe Risk-Management-Kultur aus?
Nachhaltiges Enterprise Risk Management ist ein Prozess, der alle Bereiche und Stufen im Unternehmen umfasst. Im Idealfall ist jeder Mitarbeitende ein kleiner Risk Manager und der oder die oberste Risk Manager sorgt für reibungslose Prozesse und den adäquaten Umgang mit Risiken oder für die richtige Versicherung.
Zudem darf sich das Risk Management nicht auf das Erstellen von Folien und Risk Maps beschränken, sondern muss gelebt werden. Und ganz wichtig: Gelebtes Risk Management wird vom Verwaltungsrat und der Geschäftsleitung vollumfänglich unterstützt sowohl von der Einstellung als auch von den personellen und finanziellen Ressourcen her.
Was waren früher die Hauptherausforderungen eines Risk Manager und wie sehen diese heute aus?
Die Risiken waren rückblickend vielleicht noch etwas weniger komplex und konnten vermehrt durch Versicherungslösungen gedeckt werden. Mit dem Klimawandel, der Digitalisierung und der Globalisierung haben es Unternehmen heute mit hochkomplexen Themen und Risiken zu tun, für die es keine Patentlösungen gibt. Dies im Unternehmen zu thematisieren und die Leute dafür zu sensibilisieren, ist äusserst anspruchsvoll.
«Ich glaube, die Risikowahrnehmung hat sich bereits vor Beginn von Corona, aber sicher auch seither verändert.»
Weshalb ist das so anspruchsvoll?
Weil es unsere Aufgabe ist, Geschäftsleitung und Verwaltungsrat mit Unfassbarem zu konfrontieren. Lassen Sie mich dies am Thema Cyberrisiko erklären – einem Paradebeispiel. Geschäftsleitungen und auch die Verwaltungsräte sind zahlen-, daten- und faktengetrieben – wenn Sie diese nun davon überzeugen möchten, dass Ihr Unternehmen von einer Cyberattacke heimgesucht werden könnte, wollen die Gremien genau wissen, was genau passieren könnte und wann, wie hoch der Schaden sein könnte oder was eine allfällige Versicherung sowie ein Risk-Management-Prozess kosten würde. Eine exakte Antwort auf all diese Fragen zu geben, ist beinahe unmöglich und die Antwort «Das ist zu teuer» sehr wahrscheinlich …
Hat sich die Risikowahrnehmung mit den veränderten Risiken denn nicht auch verändert?
Ich glaube, die Risikowahrnehmung hat sich bereits vor Beginn von Corona, aber sicher auch seither verändert. Die Komplexität der Risiken ist in den letzten Jahren stetig gestiegen und das bedeutet auch, dass Risiken aus einer anderen Sicht wahrgenommen werden. Hier kann das Risk Management die jeweilige Organisation unterstützen und sich positionieren.
Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf das Risk Management?
Die Digitalisierung bietet einerseits Chancen für das Risk Management, so können z. B. Techniken zur Automatisierung bei der Risikoidentifikation helfen und Analysen von Risikomanagement-Massnahmen können effizienter gestaltet werden. Die Gefahren sehe ich auf der anderen Seite darin, dass die Komplexität weiter zunimmt und das Cyberrisiko ebenfalls grösser wird.
Welche Fähigkeiten brauchen Risk Manager in einer hochkomplexen Welt?
Risk Manager sorgen für das langfristige Überleben von Unternehmen und Organisationen. Sie müssen im Unternehmen verankern, dass Investitionen ins Risk Management kurzfristig zwar etwas kosten, sich langfristig aber auszahlen. Dazu braucht es eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit, offene Augen und Ohren, die Fähigkeit, Menschen abzuholen und ganz wichtig: ein hohes Mass an Frustrationstoleranz. Versicherungswissen ist von Vorteil, aber nicht zwingend notwendig.
Die Market Opinion: Risikoveränderungen managen wird in Zusammenarbeit mit Chubb realisiert.
Hier geht es zum Dossier. Bisher erschienen:
- Interview mit FERMA-Präsident Dirk Wegener: Ein gutes Risikomanagement muss kurze Wege haben
- SIRM-Vizepräsident Matthias Huber im Interview: «Risiken werden heute aus einer anderen Sicht wahrgenommen»
- Wie Broker die Digitalisierung überleben können
- Betriebsausfall bei KMU – nicht alles ist versicherbar
- Naturkatastrophen nehmen zu
- Neue Risiken belasten Managerversicherungen
- Neue Risiken für KMU’s durch die Digitalisierung (1)
- Neue Risiken für KMU’s durch die Digitalisierung (2)
- Starke Partnerschaften, die Wachstum ermöglichen
- Risk Management: Life Science und Geschäftsreisen
- ZHAW-Professorin Angela Zeier Röschmann im Interview: «Risk Management sollte sich rechnen»
- Zürich entwickelt sich zum Risk-Management-Leuchtturm