Als Zurich Anfang August 2023 sein Halbjahresergebnis vorlegte, mussten Analysten und Investoren erst einmal nachrechnen - denn wichtige Teile des Zwischenberichts waren erstmals gemäss den Richtlinien der neuen Rechnungslegungsstandards IFRS 17 und 9 erstellt worden. Im Lebensgeschäft gibt es mit der «Contractual Service Margin» (CSM) eine ganz neue Kennziffer. Um den Vergleich mit dem Vorjahr möglichst anschaulich zu gestalten, arbeitete man auch bei Zurich mit einem sogenannten «CSM Walk» - einer Art Brücken-Chart - der wiederum bei Analysten und Investoren am Ergebnis-Call auch nicht sämtliche Fragen restlos klären konnte.
Nachhilfe für Executives
Zurich war unter den grossen schweizerischen Versicherungen, die von der Umstellung betroffen war, als erste mit der Veröffentlichung des Zwischenergebnisses dran gewesen. Swiss Re ist in einer etwas anderen Position, da die Firma die Umstellung von US-GAAP auf die neuen Richtlinien erst nächstes Jahr vornimmt. Swiss Life wird Anfang September berichten und Baloise sowie Helvetia schöpfen ihre zeitlichen Spielräume fast vollständig aus - sie werden erst Ende September 2023 über ihre Zahlen zum ersten Halbjahr unter dem IFRS-17-Regime informieren. Und weitere Adressen wie Vaudoise oder die Mobiliar entgehen der Umstellung gänzlich- sie bleiben weiterhin beim traditionellen schweizerischen Rechnungslegungsstandard.
Damit nähert sich eines der grossen Umstellungsprojekte der Rechnungslegung bei Versicherungen ihrem Ende. Im Vorfeld - das hierfür massgebliche Gremium, das International Accounting Standards Board hatte dieses neue Element 2017 beschlossen und die Einführung ursprünglich für 2021 geplant - waren die Finanzabteilungen der Versicherungen jahrelang auf Trab gehalten worden. Sehr solide Englisch-Kenntnisse auf Top-Executives-Stufe sowie ebenfalls sehr fundierte Erfahrungen in der Rechnungslegung erwiesen sich hier als grosses Plus. Alle Versicherungsgesellschaften benötigten dabei in unterschiedlichem Ausmass die Hilfe der grossen Beratungsfirmen. Und etwas holprig waren im Vorfeld die entsprechenden Erklärungs-Calls mit Analysten und Investoren abgelaufen.
Der Kern in der Lebensversicherung: Die Contractual Service Margin
Spätestens hier lohnt es sich innezuhalten und aufzuzeigen, was von der Umstellung betroffen ist - und was nicht: IFRS 17 betrifft laut der Bank Vontobel die Erfassung, die Messung, die Präsentation und die Publikation der Verpflichtungen einer Versicherungsgesellschaft. Man geht dabei in Richtung einer Markt-Bewertung. Ausgangspunkt sind die in einem bestimmten Zeitraum einkassierten Prämien abzüglich der gleichzeitigen Auszahlungen aufgrund von Schäden. Dann wird der gegenwärtige Wert zukünftiger Zahlungen berücksichtigt, es wird eine Risikoanpassung vorgenommen, der Nettobarwert berechnet, und am Ende kommt dabei der «Fulfilment Cashflow» heraus.
Je nach Blickweise sieht es so aus, als ob bestimmte Dinge so kompliziert wie möglich gemacht werden sollten - bzw. dass sich jetzt die Aufmerksamkeit auf ein paar wichtige Dinge lenkt, die unverändert bleiben. Auch der Wert der Versicherungsgesellschaft bleibt gleich - lediglich die Bewertung kann schwanken. Unverändert bleiben beispielsweise die Dividenden, die Cash Flows oder die Geschäftsstrategie. Veränderungen bei Rechnungslegungsstandards beeinflussen indes die Art und Weise wie, wann und wo bestimmte Positionen in der Finanzberichterstattung dargestellt werden.
Unter der bisherigen Rechnungslegung IFRS 4 wurden die Verpflichtungen bei Lebensversicherungen in zwei grossen Summen ausgewiesen: Einerseits die direkten, berechenbaren zukünftigen Verpflichtungen, andererseits einer Marge.
Neu gibt es vier Bestandteile. Der erste ist eine Schätzung zukünftiger Verpflichtungen. Der zweite betrifft die Risiko-Anpassungen. Der dritte ist die Anpassungen an den Zeitwert bzw. der Nettobarwert. Wenn danach ein Gewinn «übrig bleibt», kommt hier als viertes Element nur für die Lebensversicherungen die CSM oben drauf. Hier werden die Gewinne über die Zeit, während der die Services erbracht werden, zusammengefasst. Stark vereinfacht gesprochen fliessen Gewinne hier in eine Bilanzposition, bis die Verträge beendet werden. Diese Bilanzposition wird über die Erfolgsrechnung im Laufe der Vertragslaufzeit amortisiert. Die Sachversicherungen mit ihren kurz laufenden Verträgen haben keine CSM - aber auch hier gibt es natürlich wieder eine Ausnahme: die Rückversicherungen nehmen für ihr gesamtes Geschäft das General Model und haben damit auch für den Sachversicherungsbereich eine CSM.
Ab Jahr zwei wird alles noch komplizierter
Laut den Spezialisten der Bank Vontobel ist die Contractual Service Margin ähnlich zu dem «Embedded Value» von Versicherungsverträgen. Man sieht - innerhalb einer Versicherungsgesellschaft - was man mit Verträgen in Zukunft verdient.
Für die Messungen der oben aufgeführten Bestandteile stehen drei Ansätze zur Auswahl: Erstens das generelle Modell, genannt «Building Block Approach» (BBA) oder General Model, das man als Lebensversicherungsgesellschaft ohne fondsgebundene Policen übernehmen muss. Für bestimmte Versicherungslinien und -gesellschaften eignet sich zweitens der Variable Fee-Ansatz, weil hier die Policenkäufer direkt von Erträgen partizipieren, beispielsweise bei bestimmten fondsgebundenen Lebensversicherungen. Und dann gibt es drittens den Premium-Allocation-Ansatz (PAA), der sich für kurz laufende Policen und damit für die meisten Sachversicherungslinien eignet. Hier gibt es keine CSM, und die Veränderungen sind nicht so ausgeprägt wie im Lebensversicherungsbereich.
So weit, so gut. Die Komplexität steigt dann ab dem zweiten Jahr. Dann müssen die Schätzungen für die Cash Flows, die Abdiskontierungssätze, die Risikoanpassungen und die Höhe der Verpflichtungen neu abgeschätzt und festgelegt werden.
Hierbei gibt es bei den Versicherungsgesellschaften gewisse Wahlrechte. Veränderungen in den Diskontierungssätzen können in der Gewinn- und Verlustrechnung oder über «sonstige Erträge» (OCI, Other Comprehensive Income) gezeigt werden.
Auch hier gibt es weitere wichtige Details. So werden vorteilhafte Entwicklungen bei den Fulfilment-Cashflows über die Erfolgsrechnung über die Laufzeit des Produkts verrechnet. Unvorteilhafte Entwicklungen werden ebenfalls über die Erfolgsrechnung abgerechnet, solange sie die verbliebenen Beträge bei der CSM nicht übertreffen. Wenn diese Beträge die CSM übertreffen, werden sie sofort als Verlust über die Erfolgsrechnung ausgewiesen.
Mehr Informationen, weniger Vergleichbarkeit
Die detaillierten Details sind dann in der Praxis noch einmal komplizierter. Denn es gibt drei unterschiedliche Ausgangspunkte beim Übergang zu den neuen Vorschriften, ebenfalls drei unterschiedliche Mess-Modelle und es gibt drei unterschiedliche Gruppen von Versicherungsverträgen mit jeweils unterschiedlicher Handhabung. Auch das, was die Versicherungsgesellschaften dann über ihren Geschäftsverlauf berichten, wird die Vergleiche unter den Gesellschaften nicht erleichtern. Denn: Es gibt hier unterschiedlich festgelegte Diskontsätze für die Berechnung des gegenwärtigen Wertes zukünftiger Erträge, es gibt unterschiedliche Risiko-Anpassungsfaktoren für die vertraglichen Verpflichtungen und auch bei der Verrechnung der Abweichungen sind die Gesellschaften frei. Deshalb werden sich im Laufe der Jahre wahrscheinlich unterschiedliche Modelle für die Bewertung der gelisteten Gesellschaften etablieren.
Der sogenannte CSM-Walk könnte deshalb zu einem wichtigen Bewertungs-Tool im Lebensversicherungsbereich werden. Zurich hatte hier mit der Folie 30 bei der Analysten-Halbjahrespräsentation vorgelegt. Eröffnet wurde mit 10,5 Milliarden Dollar. Operative Abweichungen führten zu einen Minus von 142 Millionen Dollar. Die ökonomische Varianz sowie die neu zufliessende Gelder brachten plus 1,33 Milliarden ein. Dem steht der Ablauf von Verträgen im Umfang von 732 Millionen gegenüber. Fremdwährungseinflüsse - der Dollar schwächte sich gegenüber dem Euro und dem Franken ab - führen zu einem positiven Währungseffekt von 267 Millionen Dollar.
Ende Juni lagen im CSM-Topf 11,2 Milliarden Dollar. Wie das zu bewerten ist - darüber war man sich am Markt uneinig: Die Analysten von Jefferies und Morgan Stanley konzentrierten sich jetzt auf die Verzögerungen beim Verkauf der deutschen Lebensversicherungs-Altbestände. Eine Überschlagskalkulation der Analysten von Morgan Stanley hatte für 2022 bei Zurich eine negative Entwicklung beim CSM ausgewiesen. Bei der Zürcher Kantonalbank stellte man fest, dass die CSM-Gewinnzuweisung auf adjustierter Basis um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen war.
«Die Interpretation dieser Ergebnisse wird aufgrund des Übergangs bei der Rechnungslegung wahrscheinlich etwas länger dauern als üblich», kommentierte trocken Vontobel-Analyst Simon Fössmeier.