René Harlacher, Chief Underwriting Officer bei Zurich Schweiz, erläutert im Interview, auf welchen Gefahren aktuell der Fokus liegt – und weshalb solche Ereignisse, die etwa im Fall einer Strommangellage mit einem Extremschaden für die Volkswirtschaft verbunden wären, nur mit vereinten Kräften zu meistern sind.
Herr Harlacher, Grossereignisse wie Erdbeben oder Pandemien sind äusserst selten. Warum beschäftigt sich die Schweizer Versicherungswirtschaft trotzdem so intensiv damit?
Die verschiedenen Toprisiken haben eines gemeinsam: Sie treten zwar selten ein, ihr Schadenpotenzial ist aber immens. Die Pandemie hat uns dies eindrücklich vor Augen geführt. Umso wichtiger ist es, dass sich die Gesellschaft frühzeitig mit diesen Themen befasst.
Viele Folgen der Coronapandemie haben sich erst im Laufe der Zeit offenbart. Können wir uns überhaupt genügend auf solche Ereignisse vorbereiten?
Tatsächlich hatte die Pandemie weitreichende Folgen, die niemand vorhergesehen hatte. Das Virus brachte nicht nur gesundheitliches Leid, es legte auch grosse Teile der Wirtschaft lahm und sorgte darüber hinaus für Spannungen innerhalb der Gesellschaft. Diese Erfahrung ist denn auch der Grund, weshalb wir uns als Branche nun intensiver mit Toprisiken beschäftigen. Bei zukünftigen Ereignissen wollen wir besser vorbereitet sein.
Interviewpartner:
René Harlacher leitet als Mitglied des SVV-Ausschusses Nichtleben die Arbeitsgruppe Toprisiken. Seit August 2016 ist er Chief Underwriting Officer bei Zurich Schweiz. Zuvor war er in verschiedenen Führungspositionen bei der Axa tätig, unter anderem als Leiter Unternehmenskunden, Leiter Underwriting und Leiter Business Development Property & Casualty. Der 41jährige verfügt über einen Master of Science in Wirtschaftsinformatik der Universität Zürich.
Aber eben: Ist das überhaupt möglich?
Die Ausgangslage unterscheidet sich je nach Risikoart. Bei den Naturgefahren verfügen wir über umfassende Daten, die zum Teil über Jahrhunderte gesammelt worden sind. Deshalb können wir derartige Risiken heute schon sehr gut modellieren. Bei anderen Gefahren fehlen uns die nötigen Daten und Erfahrungen.
Welche Fragen stehen bei der Beurteilung von Grossrisiken im Fokus?
Ein wesentlicher Punkt betrifft die Bemessung des möglichen Schadens für die Volkswirtschaft, aber auch für die Versicherungsindustrie. Die potenzielle Wiederkehrperiode eines Ereignisses ist entscheidend zur Beurteilung der Gefahrenlage, da sie sich direkt auf die Umsetzung der Versicherungsangebote auswirkt.
Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Während ein starkes Erdbeben nur zirka alle 500 Jahre erwartet wird, kann intensiver Hagel alle 30 Jahre eintreffen. Das wirkt sich natürlich unterschiedlich auf die Berechnung der Prämien aus. Grundsätzlich geht es darum, das mögliche Schadensausmass eines Ereignisses zu kalkulieren und auf dieser Basis sinnvolle Versicherungsprodukte aufzubauen.
«Den grössten Handlungsbedarf sehen wir bei Erdbeben, Strommangellagen und globalen Cyberattacken.»
Auf welche Risiken legen Sie den Fokus?
Den grössten Handlungsbedarf sehen wir bei Erdbeben, Strommangellagen und globalen Cyberattacken. Gemeinsam mit einem Projektteam, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV, sind wir derzeit daran, konkrete Handlungsempfehlungen im Umgang mit diesen spezifischen Risiken zu formulieren. Bis Ende Jahr sollten uns die Resultate dieser Arbeiten zur Verfügung stehen.
Wie Sie schon erwähnt haben, wird ein starkes Erdbeben zirka alle 500 Jahre erwartet. Für viele Bürgerinnen und Bürger scheint ein solches Ereignis kaum vorstellbar.
Das ist verständlich, aber gefährlich. Das Erdbebenrisiko ist hierzulande zwar in der Tat nur mittelhoch, aber aufgrund der dichten Besiedlung und der hohen Wertekonzentration könnten Erdbeben überall immense Schäden anrichten.
Nämlich?
Das stärkste in der Schweiz dokumentierte Beben ereignete sich im Jahr 1356, also vor 666 Jahren. Damals erschütterte ein Beben mit einer Magnitude von 6,6 die Stadt Basel. Ein vergleichbares Ereignis hätte heute gemäss entsprechenden Modellierungen 1000 bis 6000 Tote, 60'000 Schwer- und Leichtverletzte, 1'600'000 kurzfristig Obdachlose und Sachschäden in der Höhe von 50 bis 100 Milliarden Franken zur Folge. Leider ist das Risikobewusstsein in der Bevölkerung dafür immer noch zu klein. Zudem sind Erdbeben in der Schweiz über die obligatorische Gebäudeversicherung nur ungenügend gedeckt.
«Mit dem Elementarschadenpool verfügt die Schweiz über ein weltweit einzigartiges Solidaritätswerk.»
Wie könnte diese Versicherungslücke gestopft werden?
Mit dem Elementarschadenpool verfügt die Schweiz über ein weltweit einzigartiges Solidaritätswerk. Der Schadenpool umfasst insgesamt neun Elementargefahren – darunter Überschwemmungen, Hagel, Sturm, Felssturz und Lawinen. Diese vorbildliche Versicherungslösung ermöglicht es allen, Naturgefahren zu einem erschwinglichen Preis umfassend zu versichern. Eine ähnliche Lösung wäre auch für Erdbeben denkbar. Was vielen nicht bekannt ist: Diese Versicherungslücke bei Erdbeben kann jetzt schon freiwillig bei der Privatassekuranz geschlossen werden.
Auch eine Pandemieversicherung ist politisch im Moment nicht gewollt. Und das, obwohl ein entsprechender Vorschlag bereits auf dem Tisch lag. Wie beurteilen Sie diesen Entscheid?
Dafür gibt es verschiedene Gründe: Der finanzielle Aspekt spielt sicher eine Rolle. Hinzu kommt, dass bei vielen wohl auch eine Art «Pandemieüberdruss» besteht. Nach zwei Jahren Ausnahmezustand fehlt vielen die Lust, sich immer noch mit dem Thema zu befassen; dabei hätten wir genau jetzt die grosse Chance, die richtigen Weichen für die Zukunft zu stellen. Tun wir das nicht, stehen wir bei der nächsten Pandemie vor den gleichen Problemen wie in den vergangenen zwei Jahren.
Wäre das so schlimm? Schliesslich kam die Schweiz ja einigermassen glimpflich durch die Pandemie.
So kann man das natürlich sehen. Viele sind der Ansicht, dass im Ernstfall immer jemand da ist, der die anfallenden Kosten übernimmt. Tatsache ist jedoch, dass wir in den nächsten Jahren damit beschäftigt sind, unsere Schulden abzubauen. Mit einer Pandemieversicherung hätten wir die Chance, Schritt für Schritt die nötigen Mittel zu äufnen, um für das nächste Ereignis bereit zu sein. Dasselbe gilt übrigens auch für andere Grossrisiken wie eine Strommangellage.
«Aktuell existiert nahezu kein Versicherungsschutz für grossflächige und anhaltende Stromausfälle.»
Wie wären wir auf ein solches Ereignis vorbereitet?
Aktuell existiert nahezu kein Versicherungsschutz für grossflächige und anhaltende Stromausfälle. Und das, obwohl der Bund in seiner Risikoanalyse «Katastrophen und Notlagen Schweiz 2020» Probleme mit dem Strom als grösstes Risiko für Bevölkerung und Unternehmen einschätzt, was die Eintrittswahrscheinlichkeit und die erwarteten Schäden betrifft.
Auch Cyberattacken gehören zu den grössten Risiken: Sind die Unternehmen in der Schweiz genügend auf solche Angriffe vorbereitet?
Das Bewusstsein ist zweifellos höher als in anderen Bereichen, aber bei der Versicherungsdurchdringung sind wir noch nicht viel weiter. Obwohl heute schon viele Versicherungen interessante Cyberlösungen im Angebot haben, sind diesbezüglich fast 90 Prozent der Firmenkunden noch nicht abgedeckt. Was, wenn es dereinst zu einer Attacke kommt, die über längere Zeit ganze Industriezweige lahmlegt? Wir tun gut daran, uns so gut es geht auf die schlimmstmöglichen Szenarien vorzubereiten.
Welche Rolle spielt die Prävention bei diesem Vorhaben?
Gerade beim Thema Cyber kommt der Prävention eine sehr grosse Bedeutung zu. Während Grossunternehmen mit eigenen IT-Abteilungen schon einiges tun, gilt es bei KMU, das Problembewusstsein weiter zu schärfen.
Lassen Sie uns abschliessend noch einen Blick in die Glaskugel werfen: Werden wir in Zukunft besser auf Grossrisiken vorbereitet sein?
Pandemien, breit angelegte Cyberattacken oder die wirtschaftlichen Auswirkungen von Strommangellagen sind nur in gewissen Ausprägungen von öffentlich-privaten Partnerschaften mit dem Bund und den Kantonen in den Griff zu bekommen. Wie erwähnt sind wir Privatversicherer derzeit dabei, geeignete Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Bleibt zu hoffen, dass diese anschliessend auf Gehör stossen.
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Jedes Jahr wandern 150'000 zusätzliche Stromverbraucher ein.