Bereits heute leben wir recht digital – kaufen online ein, wickeln Finanzgeschäfte per E-Banking ab oder teilen Erlebnisse auf sozialen Medien. Mit dem Metaverse betreten wir womöglich bald eine kollektiv-immersive virtuelle Welt, in der die Menschen digitale Netzwerke für Unterhaltung, Konsum und Wirtschaft formieren werden. Für die Finanzbranche ergeben sich hier Chancen.

Autor: Gregor Stücheli, Verwaltungsratspräsident, Inventx, Chur.

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Das Metaverse ist keine Erfindung Zuckerbergs. In der Gaming Community tummeln sich Menschen als Avatare in bunten Parallelwelten à la «Fortnite», Roblox oder Epic bereits seit längerem, im Fall von Roblox gar mit 164 Millionen aktiven Spielern pro Monat. Zwar konnte sich das in den nuller Jahren gehypte «Second Life» nicht durchsetzen. Doch als Pionier und Anschauungsmaterial für Chancen und Risiken der digitalen Unterhaltungs-, Konsum- und Wirtschaftswelt taugt die von Linden Lab gemanagte 3D-Plattform allemal. Denn verschiedene Ideen zur Monetarisierung virtueller Präsenz konnten so bereits ausprobiert, verworfen oder weiterentwickelt werden.

Im Unterschied zu 2003, als der «Linden Dollar» erste Transaktionen von virtueller in reale Währungen ermöglichte und die Plattform eher mit Abstürzen als Höhenflügen von sich reden machte, stehen heute weit ausgereiftere Technologien bereit. Die Verfügbarkeit von Cloud, Blockchain beziehungsweise Distributed-Ledger-Technologie (DLT), VR-Lösungen oder einem sichereren Identity- und Access-management erhöht die Erfolgsaussichten eines solchen Projekts erheblich.

Potenzial für die Finanz- und Versicherungsbranche

Für die Finanzbranche kann das Metaverse in verschiedener Hinsicht sehr bedeutsam werden. Zwar ist es noch ein weiter Weg zur kommerziellen Relevanz. Doch ist abschätzbar, dass wir den Trend wieder einmal kurzfristig über- und langfristig unterschätzen.

Menschen jeglichen Alters, die sich in virtuellen Communitys begegnen, können – und wollen – dort auch angesprochen werden. Banken und Versicherer sollten nicht den Fehler machen, sich auf ihrer bestehenden Kundenschnittstelle auszuruhen, bis Fin- und Insurtechs oder Neobanken ihnen den Rang mit Innovation ablaufen. Was heute noch Proofs of Concept in der analogen Welt sind, können morgen co-kreative Produkte und Services sein, die gemeinsam online entwickelt und in der virtuellen Welt getestet werden. Bereits bieten grosse Mode- und Sportbekleidungsketten auf diesen Plattformen ihre Fashion-Produkte für die Avatare an und generieren Umsätze. Es entstehen neue Geschäftsmodelle, die zu Finanztransaktionen führen und somit eine Relevanz für die bestehende Finanzbranche haben.

Marketing- und Interaktionskanal

War der «Linden Dollar» noch mühsam, unsicher und unreguliert, so sind Blockchain und DLT einfacher, transparenter und fälschungsfrei. Die Nutzerinnen und Nutzer auf den Metaverse-Plattformen werden funktionierende Wirtschaftssysteme erwarten, in denen sie Geld ausgeben oder verdienen können. Wenn immer mehr Leute das Metaverse als zusätzlichen Arbeits- und Freizeitraum betrachten, wird es von Skaleneffekten profitieren. Finanzdienstleister sind prädestiniert dafür, die realen Bedürfnisse digitaler Avatare in der Online-Welt zu verstehen und zu erfüllen. Ihnen stellt sich aber die Frage, wie sie so neue Geschäftsmodelle entwickeln und ihren Anteil an der Wertschöpfung geltend machen können. Dafür müssen sie in einem ersten Schritt «real» in der virtuellen Welt existieren.

Experimente gibt es bereits: Erste koreanische Banken ermöglichen es ihren Kunden, über virtuelle Umgebungen online auf Bankdienstleistungen zuzugreifen wie in der realen Welt. Eine weitere Bank hat sogar eine virtuelle «Finanzstadt» geschaffen, in deren Geschäftszentren sie eine virtuelle Filiale eingerichtet hat, wo sich die Kundinnen und Kunden mit ihren Avataren bewegen und sich von ihren Bankberatern per Videochat über Finanzprodukte und -dienstleistungen beraten lassen. Das Programm ermöglicht es dem Bankberaterinnen und -beratern, Links mit weiteren Informationen zu den Wünschen der Kundschaft zu posten. Ein anderes Szenario sind Telearbeitsplattformen, in denen sich die Bankmitarbeitenden in den virtuellen Räumen für Meetings und Schulungen per Avatar zusammenfinden.

Im Zeitalter von E-Business wurde es anspruchsvoller, eine Kundenbeziehung aufzubauen. Am Schalter im Dorf war das einfacher: Ein kurzer Schwatz, und man wusste, dass die Tochter des Kunden ein Haus finanzieren möchte. Hier bietet Metaverse grosse Chancen, diese Nähe zurückzuerobern, indem man von Avatar zu Avatar über Video und Co. miteinander plauscht. 

In Zukunft kann so ein komplett parallel existierendes digitales Wirtschaftssystem entstehen, für das die Werkzeuge in der Bündelung von Technologien wie KI, Blockchain, Smart Contracts, DAO und Automatisierung bereits existieren. Mit dem Open-Banking-Ansatz bewegen wir uns heute schon in die Richtung eines «Internet of Money», in dem Finanz-, Daten- und Warenströme zunehmend miteinander verschmelzen. Das Metaverse ist eine neue, spannende Facette in einem sich ohnehin vollziehenden Trend, dem sich die Finanzbranche stellen muss.

Dieser Beitrag ist erstmalig erschienen in der Handelszeitung, 27.01.2022. Titel im Original: Die ersten Gehversuche nicht hinauszögern.