Seit mehr als einem Jahr haben 90 Prozent der Schweizer Zugang zum neuen Mobilfunkstandard 5G. Die Schweiz ist weltweit Vorreiter bei der Einführung des neuen Standards. Er wird auch Folgen für die Versicherer haben. Der Mobilfunkstandard der fünften Generation verdoppelt die Geschwindigkeit der Datenübertragung, die Latenzzeit verringert sich um das Fünffache. Verzögerungen werden für den Menschen dadurch quasi unmerklich. Der neue Mobilstandard gilt deshalb als der Wegbereiter der Industrie 4.0 und des Internets der Dinge, kurz IoT (Internet of Things).
Artikelserie «Disruption in Action – Digitales Marketing in der Assekuranz»
Künstliche Intelligenz und das IoT sind die wichtigsten Treiber
Alexander Braun vom St. Galler Think-Tank IVW sieht vor allem künstliche Intelligenz und das IoT als die wichtigsten technologischen Treiber der Assekuranz in den nächsten Jahren. Tatsächlich wird sich mit 5G die Produktion internetfähiger Gegenstände beschleunigen, mit fundamentalen Folgen für die Versicherer. Eine zunehmende Zahl von Gegenständen und Geräten kann aus der Ferne getrackt, bedient und gewartet werden. Das beginnt beim Auto und bei Industrieanlagen und wird sich über das Smart Home tiefgehend auf das Alltagsleben der Schweizerinnen und Schweizer auswirken. Schadenprävention wird das IoT massiv unterstützen und das subjektive Risiko stark reduzieren.
Versicherer modernisieren ihre Kernsysteme
Für Versicherer ergeben sich dadurch enorme Chancen. Doch die meisten Unternehmen sind technisch noch meilenweit davon entfernt, die neuen Möglichkeiten nutzen zu können. «Genau wie im Bankensektor haben die Portfolios der Versicherer und die dazugehörigen IT-Systeme eine gewisse Historie», sagt Jean-Daniel Laffely, Vorstandsvorsitzender der Vaudoise, gegenüber dem deutschen Fachportal «VW heute». Um Kundenanforderungen besser gerecht zu werden, sei eine Transformation dieser Systeme notwendig. «Allerdings haben wir in diesem Bereich nicht den Vorteil eines Start-ups», räumt Laffely ein. «Wir müssen die bereits bestehenden Systeme und Daten aktiv und sorgfältig beim Digitalisierungsprozess einbeziehen.»
Verschiedene Entwicklungsstadien
Was die Back-end-Systeme anbetreffe, seien die einzelnen Versicherer der Schweiz Welten auseinander, bestätigt Michal Trochimczuk, Managing Partner der Business- und IT-Beratung Sollers Consulting. «Die einen haben schon vor Jahren ihr Kernsystem modernisiert und machen jetzt den nächsten Schritt. Andere mussten schon Lehrgeld bei der Modernisierung bezahlen und fangen neu an.» Wiederum andere haben mit der Modernisierung gestartet. Laut Trochimczuk gebe es ausserdem noch Unternehmen, die beginnen, sich über ein neues Back-End Gedanken zu machen.
Wie schwer der Start bei der IT-Modernisierung ist, zeigt das Beispiel Helvetia. Sie schrieb im ersten Halbjahr 2020 aufgrund von pandemiebedingten Belastungen rote Zahlen. Hinzu kamen Kosten aus einem fehlgeschlagenen IT-Projekt. «Im Weiteren wurde eine einmalige Abschreibung von 40,2 Millionen Franken infolge der Neuausrichtung eines Projekts zur Erneuerung der IT-Systemlandschaft im Schweizer Nicht-Lebengeschäft verbucht», heisst es in einer Medienmitteilung der St. Galler. Helvetia-CEO Philipp Gmür ist trotzdem bereit, weiter Geld in die Hand zu nehmen. «Wir sehen, dass die digitale Kundeninteraktion viel wichtiger wird», sagt er. «Und hier wollen wir zusätzlich investieren.»
Brancheninitiative will Schnittstellenproblematik lösen
Neben den rückständigen Kernsystemen zählen die mangelhaft ausgebauten Schnittstellen zu den grössten Hindernissen für den technologischen Fortschritt der Versicherer. Darunter leiden vor allem die Broker. In ihrem margenschwachen Geschäft ist eine effiziente Verwaltung überlebensnotwendig. Doch bei der Kommunikation zwischen den Systemen der Broker und der Versicherer harzt es gewaltig. «70 Prozent der Versicherungsbroker machen ihre Offertausschreibungen noch immer auf herkömmlichem Weg via PDF und Outlook», berichtete Adrian Ill, CEO der Zürcher IT-Bude Sobrado, gegenüber HZ Insurance in einem Interview. Mit agilen Teams in Zürich und Minsk baut Sobrado eine digitale Offerten-Plattform. Axa, Swiss Life und Allianz investieren in das Unternehmen, zuletzt ist die Vaudoise hinzugekommen. Basler, Groupe Mutuel, Mobiliar und Pax kooperieren.
Ähnlich wie in Deutschland, Österreich und beispielsweise auch in Schweden sind die digitalen Schnittstellen zwischen Generalagenten und Brokern auf der einen und den Versicherern auf der anderen Seite ein ungelöstes Problem. Vor anderthalb Jahren blies die Brancheninitiative IG B2B zur grossen Offensive und rief mit tatkräftiger Unterstützung von Microsoft Schweiz die Community-Plattform EcoHub ins Leben (siehe dazu Mit EcoHub in die digitale Zukunft). Unter der Schirmherrschaft von Zurich und Swica sowie Aon, Assepro, Axa, Baloise, Helvetia, Kessler und Swiss Life soll EcoHub zu einem digitalen Marktplatz und einer Kollaborations- und Kommunikationsplattform ausgebaut werden. Mehr als 5’000 Nutzer sind dort bereits registriert.
Eine neue Generation von IT-Chefs tritt an
Während in der EU mit der Umsetzung der PSD2-Richtlinie einheitliche nationale Schnittstellen für den Bankensektor geschaffen wurden, hinkt die Schweiz hier noch hinterher, auch im Versicherungssektor. Zwar verfügen schon viele Unternehmen der Branche über sogenannte Application Programming Interfaces (API) oder bauen sie auf. Doch die Qualitätsunterscheide sind gross, Dokumentationen sucht man oft vergebens.
Drei wichtige technologische Trends
Cybersecurity und digitale Ökosysteme gehören laut der IFZ-Versicherungsstudie zu den dominierenden technologischen Trends in der Schweizer Assekuranz, berichtet Florian Schreiber vom Institut für Finanzdienstleistungen Zug IFZ. «Als drittwichtigsten Trend betrachteten die Umfrageteilnehmenden das Thema ‹Digitale Identität›, welche für Versicherer in vielerlei Hinsicht von Vorteil sein und Effizienzvorteile generieren können. Aber auch das Internet der Dinge und die robotergestützte Automatisierung von Prozessen stehen weit oben auf der Agenda.» Angesichts der technologischen Schulden scheinen die Ziele ambitioniert. Doch eine neue Generation von IT-Chefs ist angetreten, diesen Rückstand wettzumachen. Der Wettlauf hat begonnen.