Herr Ebnöther, in Ihrer Umfrage wird deutlich, dass Mitarbeitende vor allem mehr Unterstützung im Bereich des finanziellen Wohlbefindens wünschen. Wie kann die Versicherungswirtschaft dazu beitragen, dieses Bedürfnis besser zu adressieren?
Durch mehr Transparenz, verständlichere Produkte und Aufklärung. Das finanzielle Wohlbefinden beinhaltet zwei Aspekte: Einerseits wünschen und brauchen die Mitarbeitenden finanzielle Absicherung für unerwartete Ereignisse – seien das ungeplante Mehrausgaben oder plötzliche Einkommenseinbussen. Hier bietet die Versicherungswirtschaft bereits viele Lösungen.
Reto Ebnöther ist Head of Health & Benefits bei WTW Schweiz.
Anderseits sind viele Menschen in finanziellen Fragen rasch überfordert. Sie suchen verständliche Informationen und Entscheidungshilfen. Vielfach sind dabei die Arbeitgeber direkt oder unabhängige Drittpartner wie Finanzplaner oder Banken gefragt. Potenzial hat die Versicherungswirtschaft sicherlich in der Produktgestaltung. Sie ist für viele Versicherte immer noch zu kompliziert und enthält zu viel Kleingedrucktes. Auch bei der Bereitstellung von Fachwissen und digitalen Tools zwecks besserer Aufklärung kann die Industrie ihren Teil zur Verbesserung des finanziellen Wohlbefindens beisteuern.
Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass der Fokus vieler Unternehmen auf dem mentalen und körperlichen Wohlbefinden liegt. Inwiefern sehen Sie hier Synergien mit Angeboten der Lebens- und Invaliditätsversicherungen, um präventiv gegen Arbeitsausfälle oder Burnouts vorzugehen?
Das ist richtig. Die Unternehmen fokussieren sich auf das mentale und physische Wellbeing ihrer Belegschaft. Während im Übrigen die Arbeitnehmenden den Fokus lieber auf dem finanziellen Wohlbefinden sehen würden. Das kann aber mitunter daran liegen, dass die eigene finanzielle Situation schlicht greifbarer und weniger abstrakt ist als die mentale oder körperliche. Dass die Versicherungsindustrie finanzielle Absicherung für den Worst Case bereitstellt, hilft mit Sicherheit dabei, den Druck auf die Person, welche mit körperlichen oder mentalen Herausforderungen zu kämpfen hat, nicht noch zusätzlich zu erhöhen.
Das entscheidende Wort ist allerdings «präventiv». Der volkswirtschaftlich günstigste Arbeitsausfall ist derjenige, der gar nie geschieht. In erster Linie sind die Arbeitgeber gefragt. Sie müssen Mitarbeitende sensibilisieren und Führungskräfte so schulen, dass die Früherkennung funktioniert. Das entsprechende Angebot einiger Versicherer ist schon sehr beachtlich und hilfreich. Diese Präventionsangebote müssen aber verschiedene Stufen umfassen, von unverbindlichen Informationsveranstaltungen über interaktive Workshops bis hin zu Einzelcoachings.
Fast ein Drittel der befragten Mitarbeitenden berichtet von Symptomen wie Angst oder Depression. Sehen Sie hier eine wachsende Verantwortung der Versicherungswirtschaft, auch psychische Erkrankungen besser abzusichern oder entsprechende Zusatzleistungen anzubieten?
Wir steuern auf eine «mental health crisis» zu. Um diese erfolgreich zu bewältigen, braucht es diverse Akteure. Auch die Versicherungsindustrie und insbesondere die Krankenversicherer spielen dabei eine sehr zentrale Rolle. Wiederum: Die reinen Versicherungsprodukte zur kurzfristigen Überwälzung der Kosten haben wir. Aber die Versicherungsdeckungen allein reichen nicht aus, da die Kosten schlussendlich von Wirtschaft und Gesellschaft getragen werden müssen.
Die Versicherer mit ihrer enormen Reichweite und Bekanntheit können gerade in der Öffentlichkeitsarbeit etwas bewegen. Sensibilisierung und Entstigmatisierung sind voranzutreiben. Weiter zu überlegen ist, inwiefern die (Kranken-)Versicherer einen besseren, schnelleren Zugang zu Spezialisten ermöglichen können. Nicht immer braucht es direkt den Termin vor Ort beim Arzt. Manchmal reicht die Möglichkeit, mit einer geschulten Person zu sprechen. Hier können wiederum digitale Tools und Angebote – sogenannte Telemedizin, wie sie beispielsweise im angelsächsischen Raum verbreitet ist – zur Entschärfung der Situation beitragen.
Wie können Versicherungen sinnvoll mit Unternehmen zusammenarbeiten, um speziell angepasste Gesundheits- und Vorsorgelösungen anzubieten, die das finanzielle, psychische und körperliche Wohlbefinden der Mitarbeitenden unterstützen?
Das ist eine sehr breit gefasste Frage. Versicherer sollten einen echten Fokus auf das Thema Prävention legen und ihre diesbezüglichen Angebote ausbauen. Die Kundenbedürfnisse sind sehr unterschiedlich. Im Idealfall kann der Versicherer dort unterstützen, wo die firmeneigenen Ressourcen limitiert sind. Eine individuelle Wellbeing-Diagnostics-Analyse zeigt zum Beispiel genau, wo Handlungsbedarf für ein Unternehmen besteht. Wie bereits erwähnt, kommt den Versicherern bei der Bewältigung dieser «mental health crisis» eine sehr wichtige Rolle zu. Ich hoffe, die Versicherer nehmen diese soziale Verantwortung, zusammen mit anderen Experten, auch zunehmend wahr.
Aber es ist klar: Es steht und fällt mit dem Willen der Unternehmen, das Wohlbefinden ihrer Mitarbeitenden als zentrales Element ihrer Humankapital-Strategie zu definieren. Unsere Umfrage hat gezeigt, dass sich die Anzahl Unternehmen, welche dies erreichen wollen, in den nächsten drei Jahren verdoppelt. Denn Unternehmen mit einer erfolgreichen Wellbeing-Strategie sind erfolgreicher, haben motiviertere Mitarbeitende und verzeichnen eine tiefere Fluktuation. Es lohnt sich also definitiv.
Viele Schweizer Arbeitgeber planen, Wellbeing-Initiativen stärker mit der Unternehmenskultur zu verknüpfen. Wie könnte die Versicherungswirtschaft solche Programme durch innovative Versicherungsprodukte unterstützen, die gleichzeitig zu einer positiven Entwicklung im gesellschaftlichen Bereich, etwa der psychischen Gesundheit der Belegschaft, beitragen?
Das ist absolut richtig. Das Verknüpfen von Wellbeing-Angeboten mit der Unternehmenskultur ist für eine erfolgreiche Umsetzung entscheidend. Nur was im Unternehmen aktiv gelebt und von oberster Stelle vorgelebt wird, hat auch einen Einfluss auf das individuelle Verhalten der Einzelnen. Wichtig dabei ist auch der Einbezug der Mitarbeitenden, um die richtigen Schwerpunkte zu setzen.
In Bezug auf die Versicherungsprodukte wird es in der Tat spannend sein, zu beobachten, wie innovativ die Branche hier sein wird. Warum nicht finanzielle Anreize setzen für Versicherte, welche von sich aus regelmässig gewisse Programme oder medizinische Check-ups absolvieren? Auch das (freiwillige) aktive Teilen von persönlichen Gesundheitsdaten mit Versicherern sollte kein Tabu sein. Schon heute bieten einige Krankenversicherer im Rahmen ihrer Zusatzdeckungen Rabatt- oder Punktesysteme im Austausch gegen gesundheitsfördernde Aktivitäten. Ähnliche Ansätze liessen sich bestimmt bei vielen anderen Versicherungszweigen, insbesondere im Bereich Unfall- oder Krankentaggeldversicherung, umsetzen. Natürlich besteht hier die Herausforderung der Antiselektion. Für mich überwiegen die Chancen jedoch klar. Personen werden zu Verhaltensänderungen motiviert und werden dadurch gesünder. Oder eine Krankheit lässt sich früher erkennen und besser behandeln. Schlussendlich senken sich dadurch die Kosten für die Gesellschaft.