Vielen polnischen Bürgern ist es ein Rätsel: Alles wird teurer, das Tanken, Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs inklusive Strom und Energie. Nur die Kfz-Versicherung wird billiger. Auf 7,7 Prozent stieg die Inflationsrate im November an, die Durchschnittsprämie in der Kfz-Versicherung hingegen ging im Jahresvergleich um 13 Prozent zurück. Im vergangenen Jahr hatten die Versicherer von einer Lockdown-bedingten rückläufigen Schadenlast profitiert. Jetzt sehen sie sich mit stark steigenden Kosten für Ersatzteile konfrontiert.

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Die für Versicherer aversive Scherenbewegung zwischen sinkenden Neugeschäftsprämien und steigender Schadenlast ist auf den meisten europäischen Märkten zu beobachten. In Polen fällt diese Diskrepanz besonders stark aus. «Die allmähliche Rückkehr zu einer Schadenhäufigkeit auf dem Niveau von vor der Pandemie in Verbindung mit niedrigen Versicherungspreisen und steigenden Kosten für die Autoreparatur machen es immer schwieriger, gute Ergebnisse zu erzielen», klagte PZU-Vorstand Tomasz Kulik bei der Veröffentlichung der Zahlen zum dritten Quartal.

Mit einem Marktanteil von knapp 40 Prozent ist die sich mehrheitlich in Staatsbesitz befindende PZU einsamer Marktführer. Mit seiner enormen finanziellen Stärke spielt das Unternehmen in der polnischen Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle. Im Bestreben, den Finanzsektor staatlich zu beherrschen, wurde PZU zum Haupteigentümer des Direktversicherers Link4 sowie der Digitalbank Alior und hält 20 Prozent an der Pekao. Die starke Verbindung des Versicherungsriesen mit dem Bankensektor soll sich jetzt durch die Stärkung der Bancassurance bezahlt machen. PZU-Managerin Małgorzata Sadurska verkündete vor kurzem ehrgeizige Ziele für den Bankenvertrieb.

Hoffnungsträger Bancassurance

Marktweit macht sich beim Thema Bancassurance wieder Hoffnung breit, nachdem der Bankenvertrieb sechs Jahre mit stark rückläufigen Beitragseinnahmen leben musste. Grund für den neuen Optimismus ist die Digitalisierung, die dem Bankenvertrieb neue Chancen eröffnet. Polnische Banken gehören zu den digital fortschrittlichsten Europas und der Wettbewerb zielt vor allem auf neue digitale Services ab. Nun ziehen die Versicherer nach. Dank einer modernen IT-Infrastruktur fällt es ihnen leichter, bei der Digitalisierung voranzugehen, als Versicherern in der Schweiz oder Deutschland. «Die polnischen Versicherer verfügen über moderne Systeme. Jetzt beginnen sie, daraus Nutzen zu ziehen und immer mehr digitale Services anzubieten», sagt Michal Trochimczuk, Managing Partner der Beratungsgesellschaft Sollers Consulting. «Neben digitalen Ökosystemen erkunden sie derzeit die Möglichkeiten von digital eingebetteten Versicherungen.»

Der polnische Versicherungsmarkt ist sehr stark konzentriert. Die acht grössten Versicherer verfügen über einen Marktanteil von 90 Prozent. Durch eine Reihe von Übernahmen ist die Marktkonzentration nochmals gestiegen. Die Allianz Polen übernimmt das Geschäft der Aviva, die in Polen vor allem in der Lebensversicherung stark ist. NN wird jetzt das Geschäft von Metlife integrieren. Davor hatte die österreichische Uniqa die Axa Polen gekauft und die Generali die Tochter der deutschen Concordia geschluckt. Durch die Fusionen rücken Wachstumspläne wieder in den Vordergrund. «Versicherer in Polen warten nach Fusionen nicht lange, bis sie ihre Systeme vereinheitlichen», kommentiert Trochimczuk. «Dadurch können sie selbst unter engen Marktverhältnissen schnell reagieren.»

Die Kfz-Versicherung macht mehr als die Hälfte des gesamten Schadenversicherungsgeschäfts aus. Zwischen 2011 und 2016 hatte ein Preiswettbewerb in dieser so enorm wichtigen Sparte für Verluste gesorgt. Der Grund dafür, warum die Versicherer jetzt wieder in eine negative Preisspirale geraten, liegt in den Vertriebsstrukturen. Versicherungen werden in der Regel von Mehrfachagenten und Agenten verkauft. Der Beruf ist dank seinen Verdienstmöglichkeiten (im Schnitt 10’000 PLN jährlich) attraktiv. In ihrem Bestreben, für die Kunden preislich etwas rauszuholen, bekommen die 31’000 hauptberuflichen und 240’000 nebenberuflichen Agenten Munition von Preisvergleichsportalen. Marktführer Rankomat hat mit Porówneo jetzt einen weiteren Konkurrenten bekommen.

Technisch besser ausgestattet als vor zehn Jahren

«Tarife ändern sich in Polen buchstäblich im Minutentakt und ohne Einschränkungen», berichtet Marcin Broda, Chefredakteur des Branchenportals «Dziennik Ubezpieczeniowy». «Es kommt vor, dass der Agent das Angebot nicht ‹aufschreibt› und der Kunde nach ein oder zwei Tagen einen anderen Preis erhält.» Nicht selten würden Kunden bei einem anderen Vertreter desselben Versicherers oder über einen anderen Vertriebskanal einen anderen Preis erhalten, berichtet Broda. Man sehe schon jetzt gezielte Angriffe auf Kundengruppen, bei denen die Wettbewerber zu hohe Preise verlangen.

«Auf dem Kfz-Versicherungsmarkt wird der Kampf um die Kunden immer hart sein», konstatiert Jan Grzegorz Prądzyński, Vorstandsvorsitzender des polnischen Versicherungsverbandes PIU. In Kooperation mit der Aufsichtsbehörde KNF will der Verband das Schlimmste vermeiden. «Der Markt hat heute mit einer Inflation der Schadenzahlungen zu kämpfen. Dies ist ein ernstes Problem, auch für die Autofahrer.» Nach Einschätzung von Broda wird der Preiskrieg nicht das Ausmass der Jahre 2011 bis 2016 annehmen. Damals wurden branchenweit Verluste in der Sparte geschrieben, die 50 Prozent des gesamten Schadengeschäfts ausmacht. Die Versicherer haben technisch aufgerüstet, berichtet Broda: «Die Versicherer konnten früher nicht genau abschätzen, ab welchem Preisniveau sie Verlust machen. Jetzt verfügen sie über entsprechende technische Systeme.»