Neben der Pflicht zur Leistung der Prämie auferlegen Gesetz und Versicherungsverträge den Versicherten eine Fülle weiterer Pflichten. Der Versicherte wird beispielsweise verpflichtet, in der Ferienwohnung einen Feuermelder zu installieren, das versicherte Fahrzeug stets sicher abzuschliessen, Wertsachen nur per Kurier zu versenden, nach einem Unfall sofort einen Arzt aufzusuchen und dessen Anweisungen zu folgen, einen Diebstahl der Polizei anzuzeigen und vieles mehr.
Takeaway
- Der Gesetzgeber hat mit der Revision des Versicherungsvertragsgesetzes das Leben der Versicherten nur scheinbar vereinfacht. Verhaltenspflichten im Vertrag sollten die Versicherten auch künftig gehörig beachten. Grundsätzlich wird auch unter dem revidierten VVG bei Verletzung von Verhaltenspflichten ein Verschulden vermutet. Der Versicherte hat daher nachzuweisen, dass ihn bei der Obliegenheitsverletzung kein Verschulden traf, wenn er Rechtsnachteile vermeiden will.
Obliegenheiten vor und nach Eintritt des Schadens
Landläufig werden diese Pflichten des Versicherten als Obliegenheiten bezeichnet. Die rechtliche Würdigung dieser Verhaltenspflichten ist ungleich komplizierter. Sie können in separaten Bestimmungen des Versicherungsvertrages geregelt werden, aber auch in den Risikobeschrieb integriert oder als Ausschlüsse von der Versicherungsdeckung aufgeführt sein.
Autor:
Cem Arikan, LLM, Rechtsanwalt, gbf Attorneys-at-law Ltd, arikan@gbf-legal.ch
Das geltende Recht regelt die Verhaltenspflichten, indem es Verhaltenspflichten im Zeitraum vor dem Eintritt eines Schadens (schadenpräventive Obliegenheit) und nach dem Eintritt des Schadens unterscheidet.
Demnach soll ein an die Pflichtverletzung geknüpfter Rechtsnachteil nur greifen, wenn die Verletzung den Umständen nach als eine unverschuldete anzusehen ist (Art. 45 Abs. 1 VVG). Sieht der Vertrag vor, dass der Versicherer nicht gebunden ist, wenn eine schadenpräventive Obliegenheit verletzt wurde, verlangt das Gesetz, dass die Obliegenheitsverletzung einen Einfluss auf den Eintritt des Schadens und auf den Umfang der Versicherungsleistung hatte (Art. 29 Abs. 2 VVG).
Die neue Regelung ab 1. Januar 2022
In seiner Botschaft ans Parlament zur Teilrevision offenbarte der Bundesrat ein eher enges Verständnis der versicherungsrechtlichen Obliegenheiten. Diese seien vertragliche Nebenpflichten, deren Verletzung eine Vergrösserung des zu ersetzenden Schadens bewirkten. Dem Bundesrat zufolge resultiert aus der Vertragsverletzung ein Schadenersatzanspruch des Versicherungsunternehmens, den es mit der Versicherungsleistung verrechnen könne. Der Bundesrat störte sich daran, dass sich das geltende Recht als unvollständig erwiesen habe, weil es in Art. 45 VVG die Kausalität zwischen der Verletzung der Obliegenheit und der Leistungspflicht des Versicherers ausser Acht liess.
Diese Ansichten teilen die Gerichte und Juristen in der Schweiz nicht uneingeschränkt. Die Rechtsprechung berücksichtigt beispielsweise, dass es nach Eintritt des Schadens nicht im Belieben der versicherten Person stehen soll, den Schaden der Versicherung zu melden oder Dispositionen zur Schadenregulierung zu treffen. Die Gerichte anerkennen, dass der Versicherer ein berechtigtes und schutzwürdiges Interesse hat, über den Schaden informiert zu werden und umgehend in die Regulierung einzuwirken. Mithin dürfen die Parteien im Versicherungsvertrag daher vereinbaren, dass der Versicherte seinen Anspruch aus dem Vertrag verliert, wenn er seine Schadenmeldepflicht verletzt.
In der parlamentarischen Diskussion zur Revision des Versicherungsvertragsgesetzes findet sich keine vertiefte Auseinandersetzung mit den Ansichten von Bundesrat, Lehre und Rechtsprechung. Das Parlament folgte dem Bundesrat unbesehen. Der beschlossenen Revision zufolge soll sich nun ein Versicherer nicht mehr auf einen vereinbarten Rechtsnachteil berufen können, wenn die Verletzung den Umständen nach als eine unverschuldete anzusehen ist oder der Versicherungsnehmer nachweist, dass die Verletzung keinen Einfluss auf den Eintritt des befürchteten Ereignisses und auf den Umfang der vom Versicherungsunternehmen geschuldeten Leistungen gehabt hat.
Alles klar?
Das neue Recht bringt bei näherer Betrachtung keine vollständige Regelung und ist nicht klarer als das geltende VVG. Mithin erscheint die neue Regelung hinsichtlich der schadennachgelagerten Obliegenheiten nicht schlüssig. Die schadennachgelagerten Obliegenheiten entstehen erst mit dem Eintritt des Schadens. Es ist insofern schleierhaft, wieso der Versicherungsnehmer hier einen Kausalitätsnachweis erbringen soll.
Auch unter neuem Recht können Verhaltenspflichten in den Risikobeschrieb integriert oder als Deckungsausschluss erfasst werden. Die Anwendung des neuen Art. 45 Abs. 1 VVG in derartigen Konstellationen hat der Gesetzgeber nicht geregelt.
Unter dem neuen Recht dürften die Versicherer dahin tendieren, in ihren Policen die schadenpräventiven und schadennachgelagerten Obliegenheiten klar zu bezeichnen und zu unterscheiden.