Stephan Wildner, Sie sind im letzten Oktober in die Fussstapfen von John Anthony getreten, der Willis Towers Watson als Country Head Schweiz 23 Jahre lang geprägt hatte. Was möchten Sie von ihm übernehmen?
Es ist natürlich immer schwer, wenn man sich mit Kollegen vergleicht, die das Unternehmen mitgeprägt haben wie John Anthony. John hatte einen unglaublichen Fokus auf die Kunden und den Markt. Dies und auch seine Prinzipienorientiertheit teile ich. Da kann ich nur versuchen, diese grossen Fussstapfen auszufüllen.
Und was werden Sie anders machen?
Was mich als Person auszeichnet, ist das Bemühen um transparente Kommunikation in unsicheren Zeiten. Ich versuche klare Botschaften nach innen und aussen zu senden. Dabei möchte ich Kunden und Mitarbeitende abholen sowie eine hohe Sichtbarkeit erzeugen.
Wir befinden uns mitten in unsicheren Zeiten. Wie schaffen Sie es, die Sichtbarkeit von Willis Towers Watson zu erhöhen?
Wir nutzen neue Kommunikationsplattformen und arbeiten an unseren Produkten, Services und Beratungsansätzen. In diesem Zusammenhang fragen wir uns beispielsweise, welchen Beitrag Social Media zu unserer Kommunikation leisten kann. Früher kamen Kunden zu Vorträgen im Rahmen von Round-Table-Veranstaltungen – heute gehen wir eher proaktiv mit Informationen auf den Markt.
Was machen Sie nach innen gegenüber den Mitarbeitenden anders?
Wir haben die interne Kommunikationsfrequenz deutlich erhöht. Die regulatorischen Änderungen des Bundesrats kamen teilweise alle zwei Wochen und wir haben gemerkt, dass die Kollegen eine sehr schnelle Reaktion vom Führungsteam erwarteten. Die Geschwindigkeit hat sich also erhöht und wir treffen uns regelmässig virtuell. Da besprechen wir auch die Grosswetterlage und nutzen mitunter kurze Online-Befragungen, um Stimmungen einzufangen.
«Micromanagement ist nicht in meinem Sinn. Ich vertraue darauf, dass ich Kolleginnen und Kollegen habe, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.»
Brauchts mehr virtuelle Meetings, als es persönliche bräuchte?
In gewissem Sinne ja. Die Termindichte hat deutlich zugenommen. Wir sehnen uns daher vermutlich alle nach den persönlichen Terminen und Treffen zurück. Vieles ist dort anders kommunizierbar: Wir können direkter interagieren und sehen die Körpersprache besser. Auf der anderen Seite war ich früher drei bis vier Tage pro Woche unterwegs. Seit einem Jahr bin ich im Prinzip immer in Zürich und nah an meinem Team. Das ist schon auch ein gutes Gefühl.
Nebst Ihrer neuen Position als Managing Director Schweiz behalten Sie die Leitung der Bereiche Pensionskassenberatung und Investment. Wie schaffen Sie es, diesen beiden wichtigen Aufgaben gerecht zu werden?
Hermine Granger in «Harry Potter» hatte ein Instrument, mit dem sie an mehreren Orten gleichzeitig sein konnte. Das wäre doch was! Aber Spass beiseite: Es ist sicherlich eine Frage des Führungsverständnisses. Micromanagement ist nicht in meinem Sinn. Ich vertraue darauf, dass ich Kolleginnen und Kollegen habe, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Am Ende ist das motivierender für alle und ich kann die Richtung mitdefinieren, ohne jeden Handschlag absegnen zu müssen.
Die berufliche Vorsorge braucht bekanntlich Erneuerungen, die politisch nur schwer umsetzbar sind. Wofür plädieren Sie, damit die zweite Säule wieder auf einem guten Fundament steht?
Diskussionen um zweite Säulen sind weltweit im Gange. Letztlich sind die Probleme und auch die Lösungsansätze überall die gleichen. Ich bin von Haus aus Ökonom und gehe vielleicht mit einer anderen Perspektive an das Thema als ein Mathematiker oder Jurist.
«Den «War for Talents» erleben wir in der Praxis in allen Grössen und Branchen.»
Systeme funktionieren dann gut, wenn es gesetzliche Rahmenbedingungen gibt, die Wettbewerb zulassen. Ich befürworte eine prinzipienbasierte Aufsicht, die den verschiedenen Geschäftsmodellen gerecht wird. Bei undifferenzierten Kriterien ist immer jemand über- oder unterreguliert. Natürlich kann man dann sozialpolitische Rahmenvorgaben machen, insbesondere im in der Schweiz verankerten Obligatorium. Aber solche Vorgaben haben Umverteilungen zur Folge. Ob man diese Wirkung zu akzeptieren bereit ist oder nicht, ist letztlich wieder ein politischer Entscheid. Die Schweiz hat ja einen tollen Ansatz, indem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Vorsorgelösung miteinander definieren. Dadurch gibt es weniger Konflikte und es braucht auch weniger Regulierung.
Diese Mitwirkung der Mitarbeitenden wurde durch ein Bundesgerichtsurteil im letzten Sommer noch einmal manifestiert. Ist sie denn in der Praxis nicht manchmal einfach eine Farce? Gerade bei kleineren Unternehmen …
Ich stelle fest, dass dies sehr ernst genommen wird, auch bei kleineren Firmen. Den «War for Talents» erleben wir in der Praxis in allen Grössen und Branchen. Der Arbeitgeber hat genauso ein Interesse an einer guten Vorsorge wie der Arbeitnehmer. Die gemeinsame Verantwortung funktioniert normalerweise. In Bezug auf die zweite Säule gibt es aber noch einen anderen Punkt, der gerne übersehen wird.
«Wie sich 2020 entwickelt hat, war schon überraschend und dem guten Krisenmanagement der Pensionskassen sowie der Politik der Notenbanken zu verdanken.»
Der wäre?
Unsere Pensionskassen sind kleine, sehr einfach strukturierte Lebensversicherungsunternehmen. Sie agieren im Spannungsfeld von Zins und Langlebigkeitsrisiken. Diese Risiken haben stark zugenommen. Die Volatilität bei den Anlagen und die tiefen Zinsniveaus, wie wir sie heute kennen, waren früher nicht vorstellbar. Für diese Risiken braucht es einen Träger. There’s no such thing as a free lunch! Faktisch ist die Pensionskasse nur eine formale Hülle; das Risiko müssen die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer oder die Allgemeinheit tragen. In den meisten Ländern sehen wir, dass die Arbeitgeber schon viele Kosten tragen, die Tendenz ist deshalb, dass man sie eher beim Arbeitnehmer positioniert. Der Trend in der Schweiz zu 1e-Plänen geht in diese Richtung.
Können Sie uns einen Überblick geben, wie es um die Schweizer Pensionskassen mitten in der Corona-Krise steht?
Wenn Sie mich das vor einem Jahr gefragt hätten, hätte ich mit Ihnen das Grab für die Pensionskassen ausgehoben. Wie sich 2020 entwickelt hat, war schon überraschend und dem guten Krisenmanagement der Pensionskassen sowie der Politik der Notenbanken zu verdanken, welche durch grosszügige Geldschaffung die Märkte stabilisiert haben. Wir haben die Quartalsstudie Swiss Pension Finance Watch am Markt. Kurz gesagt, ermitteln wir den fiktiven Deckungsgrad einer durchschnittlichen Schweizer Pensionskasse. Der Indexstand Ende 2020 lag auf dem Vorjahresniveau bei einer durchschnittlichen Rendite von etwa 3 Prozent.
Wie war das möglich?
Alle Kassen haben in Risikomanagement und Kapitalanlagen investiert. Sie haben gut reagiert und sich auf die neuen Gegebenheiten eingestellt. Es gab ja einen starken Einbruch an den Kapitalmärkten – die haben sich aber bis Ende Jahr wieder erholt.
«Immobilien sind komplexe Anlagen geworden und gute Renditen gibt es nur bei risikoreichen Investments.»
Was ist der Preis dafür?
Der Arbeitsmarkt würde erst einen Preis zahlen, wenn es Sanierungsbeiträge bräuchte. Bis dahin zahlen Arbeitgeber und Arbeitnehmer keine Kosten, und sogar die erzielten Renditen fielen durchschnittlich aus, was eine gute Verzinsung der Altersguthaben ermöglicht. Die Kassen haben natürlich in Sicherungsmassnahmen und Konzepte investiert, vielleicht auch in Technologie und Prozesse.
Sie haben die Notenbank angesprochen – welche Rolle spielte der Staat dabei?
Er hat die Märkte gestützt, indem die SNB Liquidität bereitgestellt hat. Dabei muss man natürlich schon beachten, wie stark sich die Anlagestruktur der Pensionskassen verändert hat. Früher kauften sie Schweizer Staatsanleihen und vielleicht noch eine Liegenschaft, welche sie vermieteten. Das waren sichere Werte. Heute sind Immobilien komplexe Anlagen geworden und gute Renditen gibt es nur bei risikoreichen Investments. Das Problem dabei ist: Viele haben in guten Zeiten hohe Renten versprochen, die nun noch 20 Jahre und mehr laufen. Diese Altlasten bereiten mir persönlich Sorgen.
Wie geht man damit um?
Im Grundsatz gibt es zwei Möglichkeiten. Einerseits kann man sich die Frage stellen, ob Pensionskassen das überhaupt ohne Hilfe leisten können. Als die Banken ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten, hat man Bad Banks geschaffen, um die schlechten Kredite auszulagern. Wenn man das auf die Pensionskassen überträgt, frage ich mich: Braucht es nicht nationale Einrichtungen, die solche überteuerten, nicht mehr finanzierbaren Rentnerbestände übernehmen? Banken klassifizierte die Politik als systemrelevant. In Anbetracht dessen, dass die Pensionskassen ein wesentlicher Teil der Altersvorsorge sind, dürften sie ebenfalls systemrelevant sein. Aber es ist natürlich ein radikaler Vorschlag.
Was ist die zweite Möglichkeit?
Naheliegender ist natürlich das Extrem auf der anderen Seite. Die Pensionskassen müssen das Problem selbst lösen. Das hat zur Folge, dass sie Zusatzrendite suchen und deutlich höhere Risiken eingehen als früher. Wenn sie aus der Not heraus in komplexe, renditeträchtige Anlagen investieren, sorge ich mich schon und frage mich, ob die Verantwortlichen in den Kassen diese auch tatsächlich verstehen.
Wobei der Worst Case ist, dass die Blase platzt und die arbeitende Bevölkerung anschliessend die Pensionskassen sanieren muss?
Genau. Wenn Ihnen jemand eine Rendite von 10 Prozent anbietet, sollten Sie stutzig werden und Fragen stellen. Ohne Risiko gibt es keine hohe Rendite. Aber die Not macht erfinderisch: Wer das Geld dringend braucht, fragt unter Umständen nicht mehr nach.
«Auch die sogenannten Tail Risks, die sehr selten auftreten, sollte man auf dem Radar haben.»
Gehen wir noch etwas näher auf Willis Towers Watson ein: Welche Bereiche bewirtschaften Sie hauptsächlich und wer sind Ihre Kunden?
Einerseits unterstützen wir Kunden beim Risikomanagement. Es hat Auswirkungen auf die ganze Wirtschaft, dass die Welt komplexer geworden ist. Wetterkapriolen, die vernetzte Gesellschaft und andere Trends führen zu neuartigen Risiken. Wir helfen Unternehmen, diese zu verstehen, zu analysieren, zu quantifizieren und letztlich beherrschbarer zu machen.
Unser zweiter Geschäftsbereich ist der Mitarbeiter im Unternehmen, der zu einem knappen Produktionsfaktor geworden ist. Wir unterstützen Kunden dabei, Investitionen in Mitarbeitende gut zu strukturieren. Vergütungsberatung, Talentmanagement, die berufliche Vorsorge und die Gesundheitsvorsorge sind diesbezüglich Stichworte, mit denen wir uns beschäftigen.
Sie sagten, Sie helfen Unternehmen, Risiken beherrschbarer zu machen. Ist das denn in jedem Fall möglich? Gerade die Pandemie hat ja auch die Grenzen des Versicherbaren aufgezeigt.
Es gibt sicher eine Reihe von Risiken, die nicht beherrschbar sind. Aber auch die sogenannten Tail Risks, die sehr selten auftreten, sollte man auf dem Radar haben. Selbst wenn es keine Versicherung dafür gibt.
Welche Ziele verfolgen Sie mit Willis Towers Watson Schweiz in den nächsten Jahren?
Aus meiner Sicht ist es entscheidend, dass wir am Markt präsent bleiben. Unsere Kunden agieren in einem dynamischen Umfeld. Wir müssen mit dieser hohen Geschwindigkeit mitgehen, damit wir weiterhin erfolgreich sein können.
Die Kolleginnen und Kollegen sind dabei der Schlüssel zum Erfolg. Wir möchten das Team motiviert halten. Es ist ganz wichtig, dass man für das brennt, was man tut.
Im Frühling vergangenen Jahres gab es Schlagzeilen von einer «Elefantenhochzeit» mit Aon. Wie ist der aktuelle Stand?
Ich stelle mir gerade die beiden Rüssel vor, die sich bei der Hochzeit ineinander verhaken (lacht). Derzeit laufen die kartellrechtlichen Genehmigungsprozesse. Die EU macht eine vertiefte Prüfung, deren Ergebnis bis Mitte Mai vorliegen sollte. Wir erwarten, dass wir Mitte Jahr zu einem Closing kommen können.
Was bedeutet das für das Schweiz-Geschäft?
Aus meiner Sicht hat die Fusion grosses Potenzial. Unsere Fähigkeiten ergänzen sich perfekt. Zudem braucht es immer mehr Know-how, Spezialisierungsmöglichkeiten und Innovation. Mit der Grösse, die wir gemeinsam erreichen, gibt es viele spannende Möglichkeiten für unsere Kunden und Kolleginnen und Kollegen.
«Durch unsere Internationalität können wir Wissen und Technologien über Länder hinweg austauschen. Das ist mir sehr wichtig.»
Welchen Part bringt Aon ein, den Sie zurzeit nicht leisten können?
Einerseits haben wir in allen Geschäftsbereichen unterschiedliche Kundenportfolios, die von den Erfahrungen des jeweils anderen profitieren können. Andererseits haben wir zum Beispiel die Pensionskassenverwaltung vor einigen Jahren ausgelagert, weil wir dafür zu klein waren. Aon macht das selbst.
Ganz generell: Wie stark sind Sie von Ihrem britischen Mutterhaus geprägt? Was läuft bei Ihnen anders als beispielsweise bei einem Kessler, der in der Schweiz gross geworden ist?
Eine spannende Frage. Als internationales Haus mit angelsächsischem Namen müssen wir uns diesbezüglich immer erklären. Eigentlich unterscheiden wir uns punkto Lokalität aber gar nicht so sehr von den Kesslers dieser Welt. Wir sind hier genauso verwurzelt. Was uns unterscheidet, ist die Möglichkeit, über den Tellerrand hinauszuschauen. Durch unsere Internationalität können wir Wissen und Technologien über Länder hinweg austauschen. Das ist mir sehr wichtig. Wir stellen nur Leute ein, die diese Offenheit mitbringen und die Haltung teilen, dass das Rad nicht zweimal erfunden werden muss.
Das aktuelle Jahr bleibt turbulent und die Pandemie ist noch nicht ausgestanden. Um nochmals zu «Harry Potter» zurückzukehren: Wagen Sie einen Blick in die Glaskugel?
Die liebe Glaskugel, wenn man die hätte … Ich denke aber, ich kann mich durchaus rational einer Antwort annähern. Im Sommer ging es uns allen zeitweilig so, dass wir die Pandemie schon abgehakt hatten. Ich glaube deshalb, wir dürfen sie nicht unterschätzen. Auf der anderen Seite bin ich fest von der Wirkung der Impfung überzeugt und hoffe, dass wir uns bis im Herbst zumindest wieder auf ein gemeinsames Mittagessen oder andere Verabredungen freuen können.
Welche Schwerpunkte legen Sie persönlich für die nahe Zukunft?
Ich möchte dicht an meinen eigenen Kunden dranbleiben und so mit ihnen zusammenarbeiten, dass sie gut durch diese Zeit kommen. Zudem will ich einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenschluss mit Aon leisten. Den Mehrwert für unsere Kunden und Kolleginnen und Kollegen sollten wir schnell greifbar machen.