Thomas Harnischberg kennt das Gesundheitswesen aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Der 60-jährige Rechtsanwalt arbeitete jahrelang in der Privatassekuranz und war beim Bund persönlicher Mitarbeiter von Adolf Ogi und Stabsmitarbeiter bei den Bundesräten Christoph Blocher, Eveline Widmer-Schlumpf und Simonetta Sommaruga. Er läuft weder Marathon noch sitzt er in zig Verwaltungsräten, noch schläft er lediglich drei Stunden – dafür nimmt er sich Zeit für seine Mitarbeitenden, seine Familie und vor allem für sein Herzensthema, das Gesundheitswesen. Im Gespräch darüber nimmt er kaum ein Blatt vor den Mund – dafür sei er schlichtweg zu erfahren und zu alt.

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Herr Harnischberg, vor einem halben Jahr haben Sie die Aufgabe als KPT-CEO übernommen. Wie haben Sie die ersten sechs Monate in der neuen Rolle erlebt?

Wie die Jahre bei der KPT zuvor  – kein Tag ist langweilig, ich komme jeden Morgen gerne ins Büro. Weil ich die Firma und die Mitarbeitenden nach all diesen Jahren sehr gut kenne, brauchte ich auch keine Eingewöhnungszeit, musste mir kein neues Netzwerk aufbauen. 

Dass Sie schon so lange Zeit bei der KPT sind, könnte ja auch ein Nachteil sein …

Klar, diese Gefahr besteht, allerdings gilt für mich der Grundsatz: Je höher ich in der Hierarchie steige, desto demütiger werde ich. Ich halte nichts davon, wenn ein Chef meint, es sei alles erlaubt. Als CEO und als Führungskraft generell habe ich eine Vorbildfunktion und kann von meinen Mitarbeitenden nur das verlangen, was ich selber auch vorlebe. Zudem kann ich meine Aufgabe nicht alleine bewältigen, ich brauche ein Team dazu. 

Sie sind vor elf Jahren in einer turbulenten Zeit zur KPT gestossen. Was hat Sie damals motiviert, Ihren sicheren Job in der Verwaltung aufzugeben und in ein Unternehmen zu wechseln, dessen Manager ihre Pflichten grob verletzt hatten?

Auch wenn es wie ein Standardspruch tönt: Schwieriges motiviert mich. Ich hatte zwar in meinen verschiedenen Rollen bei unterschiedlichen Bundesräten wichtige Aufgaben; doch alles, was man im politischen Umfeld gestaltet, wird letztlich verwässert, und das ist mit der Zeit sehr ermüdend. Es hat mich damals gereizt, etwas Neues zu wagen.

Wie viel Gestaltungsspielraum bleibt Ihnen im immer stärker regulierten Gesundheitsmarkt überhaupt noch?

Intern haben wir viel Spielraum, um uns optimal für das herausfordernde Umfeld aufzustellen, aber im Markt wird der Spielraum immer enger. Die Eigenverantwortung, die ich bei unseren Mitarbeitenden fördere, ist im aktuellen, vom Regulator dominierten Umfeld immer weniger wichtig. 

Wie meinen Sie das?

Etwas überspitzt gesagt wird es in 20 Jahren nicht mehr darauf ankommen, ob ich unternehmerisch denken, sondern nur noch darauf, ob ich all die regulatorischen Hürden überspringen kann. Leider gibt es immer mehr Formalismus, der niemandem etwas bringt. Und schon gar nicht den Versicherten. 

Wie könnte dieser Formalismus wieder rückgängig gemacht werden?

Dazu hätte ich eine provokative Forderung: Wenn jemand in der Versicherungsaufsicht tätig ist, sollte er oder sie vorgängig bei einem Versicherer gearbeitet haben. Ich bin überzeugt, dass dadurch wieder viel mehr Augenmass Einzug halten würde. Wenn man etwas beaufsichtigt, muss man sich eine fundierte Meinung bilden können. Wie will man sich aber eine Meinung zu etwas bilden, wenn das notwendige Fundament nicht erworben wurde? 

Als Krankenkasse bewegen sie sich trotz allem auch im freien Markt. Wohin geht der KPT-Weg im hart umkämpften Markt um Zusatzversicherte?

Zurzeit stecken wir mitten in einem Strategieprozess zusammen mit dem Verwaltungsrat. Bis im Herbst sollte dieser abgeschlossen sein. Ohne vorzugreifen kann ich heute schon sagen, dass wir als mittelgrosse Krankenkasse sicher nicht den Anspruch haben, grössenmässig zu Helsana oder CSS aufzuschliessen. Unser Weg liegt darin, im Kerngeschäft, in dem wir eine sehr hohe Kundenzufriedenheit haben, ausserordentlich gut zu sein und unseren Kundinnen und Kunden Mehrwert zu bieten. Letztlich muss eine Versicherung nicht sexy sein, sondern einfach funktionieren und die Ansprüche der Versicherten perfekt erfüllen.

Welche Ansprüche haben denn die Versicherten?

Sie wollen schnell bedient werden, und das auf jedem Kanal. Und sie möchten sicher sein, dass die Branche sich um ihr Wohl kümmert und nicht mit sich selbst beschäftigt ist. 

Heisst das, das Gesundheitswesen verliert seine «Kunden» zunehmend aus den Augen?

Zurzeit kämpft jeder Akteur im Gesundheitswesen gegen jeden, das bringt einfach nichts! Wir müssen wieder mehr zum Partnerschaftlichen zurückfinden und auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. Natürlich sind die einzelnen Versicherer Konkurrenten, doch letztlich geht es um die Versicherten und nicht um uns. 

Es ist doch untragbar, dass sich die beiden Verbände der Krankenversicherer mit surreal anmutenden Grabenkämpfen neutralisieren. Wenn die Politik sieht, dass sich nicht einmal die Branche einig ist, beginnen die Politiker zu gestalten. Und dass das nicht zwingend besser rauskommt, zeigt das Beispiel des Tardoc. 

Fehlt dem Gesundheitswesen also eine grosse Dirigentin, ein grosser Dirigent?

Nein, es liegt eher daran, dass es wohl kein komplizierteres Thema gibt als die Gesundheitspolitik. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich immer alles verstehe. Es ist zu komplex und verflochten und am besten wäre es, wenn wir einfach einen Resetknopf drücken und auf der grünen Wiese ein neues System aufbauen könnten. Doch das geht natürlich nicht. Also müssen wir schauen, dass wir uns wieder zusammenraufen können.

Welche pragmatischen Lösungen sehen Sie? 

Es tönt wirklich banal: Als Erstes müssen wir das Gespräch wieder suchen und nicht nur die Profilierung. Leider eignet sich die Gesundheitspolitik sehr gut dazu, sich mit populistischen Vorstössen zu profilieren. Wir bräuchten in den Gesundheitskommissionen aber Leute, die ein wirkliches Interesse daran haben, etwas für den Menschen zu tun und nicht einfach etwas für die Galerie zu erzählen. Es muss wieder Akteure geben, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und auch harte Diskussionen zu führen.

Was meinen Sie mit harten Diskussionen?

Ich denke zum Beispiel an den Leistungskatalog. Wir können diesen nicht permanent ausbauen und dabei hoffen, dass die Prämien nicht steigen. Wir müssten mutig sein und ehrlich darüber diskutieren, was denn nun wirklich in den Leistungskatalog der Grundversicherung gehört und was nicht. 

Solche Diskussionen scheuen Politikerinnen und Politiker wie der Teufel das Weihwasser – mit diesen gewinnt man keine Wahl …

Um das Gesundheitswesen auf gesunde Beine zu stellen, braucht es Leute, die bereit sind, den verschiedenen Akteuren zuzuhören und danach Entscheide zu fällen. In der Verwaltung besteht leider die Gefahr, dass man für jedes neue Problem, das entsteht, ein neues Gesetz oder eine neue Verordnung macht. Ich plädiere für den Mut zur Deregulierung. Ansonsten fahren wir das Gesundheitssystem gegen die Wand.

Manchmal braucht es einen Crash, damit wieder etwas Neues entsteht …

Ich fürchte, dass ein Crash zu einer Einheitskasse führen könnte, und das wäre nun wirklich die schlechteste Lösung. Ein Beispiel: Wenn wir für eine solche die Informatik vereinheitlichen müssten, würde das zehn Jahre dauern. In dieser Zeit kommen wir nicht vorwärts. Ein gewisser Wettbewerb tut auch in der Grundversicherung gut. So überlegen sich die Kassen, wo sie besser werden und wo sie im Interesse der Versicherten Kosten senken könnten.