Martin Lorenzon, hatten Sie und Ihr Team im vergangenen Jahr mehr zu tun?
Ja, die Arbeitslast steigt. Schon 2023 hatten wir eine Zunahme der Fallzahlen von rund 4 Prozent und 2024 um weitere 9 Prozent. Sie sind also innert zweier Jahre um 13 Prozent gestiegen. Im ersten Quartal 2025 registrieren wir eine Zunahme in noch stärkerem Tempo.
Wo drückt der Schuh am häufigsten?
Bei den Autoversicherungen sind die Prämien teilweise deutlich angestiegen. Das hat zu einigen Fragen und Beschwerden geführt. Wir mussten den Anfragenden unsere neutrale Funktion erklären. Wir können uns in die Prämien- und Tarifgestaltung der Versicherer nicht einmischen. Die Einzige, die Prämien auf allfällige Missbräuchlichkeit überprüfen könnte, wäre die Finanzmarktaufsicht Finma als Aufsichtsbehörde.
Was kritisierten die betroffenen Autobesitzerinnen und -besitzer?
Einzelne Versicherer haben angefangen, die Prämien stärker nach dem individuellen Risiko zu bemessen.
Wer beispielsweise in den letzten sechs Jahren höhere Schadenleistungen bezog, als er Prämien bezahlt hat, erhielt eine Anpassung der Prämie. Früher ist mir dies so nicht aufgefallen.
Das heisst, gewisse Versicherer haben ihre Praxis geändert?
Ja, einige haben ihre Praxis angepasst. Die Prämie richtet sich nach der Risikogruppe. Diese hängt von einer Reihe Faktoren ab, etwa von Wohnort, Geschlecht, Nationalität, Alter et cetera. Diesbezüglich sind die Versicherungen relativ frei. Wegen des Diskriminierungsverbots muss man dies dann auch mit statistisch erfassten Zahlen belegen. In den meisten Fällen können wir nur antworten: Das ist rechtens.
Martin Lorenzon ist Jurist und Rechtsanwalt und seit 2010 Ombudsmann für Privatversicherungen und die Suva. Als Ombudsmann ist Lorenzon in seiner Tätigkeit als Vermittler frei und keinen Weisungen unterworfen.
Eine Stiftung
Die Ombudsstelle wurde am 2. Juni 1972 vom Schweizerischen Versicherungsverband (SVV) in Form einer Stiftung ins Leben gerufen. Am 1. Januar 2002 ist ihr die Suva als grösster schweizerischer Unfallversicherer beigetreten. Heute arbeiten alle wichtigen, in der Schweiz tätigen Privatversicherer und die Suva mit der Ombudsstelle zusammen. (pd/ajm)
Wo haben die Fallzahlen sonst noch zugenommen?
Im Rechtsschutzbereich haben die Zahlen sehr deutlich zugenommen, um über 20 Prozent. Wir haben den Eindruck, das geht jetzt weiter so, auch in diesem Jahr.
Welcher Bereich gibt für Sie mehr zu tun? Die Anliegen rund um die Suva oder die Anliegen rund um andere Versicherungen?
Das ist eine gute Frage, weil diese beiden Namen, Privatversicherung und Suva, in der Bezeichnung unserer Stiftung stehen. Die obligatorische berufliche Unfallversicherung (UVG) macht nur etwa einen Drittel des Volumens der Privatversicherungen aus.
Wir hatten letztes Jahr 3078 Anfragen. 86 zur beruflichen Vorsorge, 720 zum UVG und 2272 im Privatversicherungsrecht. Das heisst, die Anfragen im Bereich UVG entsprechen etwa einem Drittel der Privatversicherungen. Die Suva selbst betrifft etwa die Hälfte von diesem Volumen.
«Ich bin der Meinung, man sollte auch in der Schule etwas zu Vertragskunde und Financial Literacy lernen.»
Sind Suva-Fälle komplizierter?
Im Durchschnitt sind sie aufwendiger, besonders die Fälle rund um das Unfalltaggeld, sobald es um medizinische Fragen und die Beweisführung geht. Wenn hingegen zwei Autos kollidieren, ist häufig rasch klar, wer im Recht ist.
Gibt es saisonale Schwankungen bei den Anfragen?
Ja, das gibt es. Etwa vor dem Anfang des neuen Jahres, wenn die häufigsten Prämienerhöhungen stattfinden.
Stark saisonbedingt fällt bei uns auch Arbeit rund um Reiseversicherungen an, allerdings um ein paar Wochen verzögert nach den jeweiligen Ferien.
Auch haben wir im Winterhalbjahr mehr zu tun. Ich kann mir vorstellen, dass es damit zusammenhängt, dass man dann mehr Zeit hat, sich um solche Angelegenheiten zu kümmern.
In welchen Fällen gelingt es Ihnen und Ihrem Team, eine rasche Lösung zu finden?
Es sind Fälle, in denen wir gut dokumentiert sind und ein offensichtlicher Fehler bei einer Versicherungsgesellschaft passiert ist. Das kann es überall geben.
Wo stossen Sie auf Granit?
Es gibt zwei Fallgruppen. Wenn es um sehr hohe Streitwerte geht, ist es schwieriger, eine Lösung zu finden. Das ist generell so.
Aber wo wir wirklich kaum eine Chance haben, etwas zu erreichen, ist im Lebensversicherungsbereich, wenn es darum geht, ob eine Falschberatung beim Vertragsabschluss stattgefunden hat: Wenn man das nicht schwarz auf weiss auf einem Papier sieht oder in einer E-Mail-Korrespondenz, dann ist es fast unmöglich, zu bewirken, dass der Versicherer für die Falschberatung einsteht.
Aber das neue Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) ist per 1. Januar 2024 in Kraft getreten, darin kommen neue Transparenzvorschriften zum Tragen. Das betrifft jedoch nur Verträge, die ab jetzt abgeschlossen werden.
Ab jetzt müssen Versicherungen ein Basisinformationsblatt abgeben, ähnlich wie bei anderen Finanzprodukten. Ich erhoffe mir aufgrund der Gesetzesrevision in Zukunft Verbesserungen.
«Viele Leute sind fordernder geworden und glauben, einen Anspruch auf kostenlose anwaltliche Vertretung zu haben. Das war früher anders.»
Wo liegen sonst noch Verbesserungen drin?
Wo man auch ansetzen sollte, ist nicht nur bei den Versicherungen, sondern auch bei der Ausbildung. Ich bin der Meinung, man sollte auch in der Schule etwas zu Vertragskunde und Financial Literacy lernen: Was bedeutet meine Unterschrift oder der berühmte Klick im Internet? Bei welchen Verträgen hat man überhaupt ein Widerrufsrecht? Wie lange hat man das Widerrufsrecht? Und so weiter.
Oft lesen die betroffenen Personen ihre Policen nicht richtig durch, besonders bei Onlineverträgen stellen wir das gehäuft fest.
Was passiert, wenn Sie und Ihr Team keine Lösung in der Vermittlung finden respektive erarbeiten können?
Wenn wir sehen, dass sich der Versicherer rechtlich korrekt verhalten hat und nichts verweigerte, was er nach Vertrag zu leisten hat, müssen wir das den Versicherten möglichst verständlich mitteilen.
Und bei den anderen Fällen?
Wenn wir der Meinung sind, da sei etwas nicht gut gelaufen, sollte die Gesellschaft entgegenkommen, wenn wir dort ein zweites Mal interveniert haben – oder vielleicht ausnahmsweise sogar ein drittes Mal.
Meistens geht es dann um Rechtsfragen: Wie muss man jetzt eine Klausel auslegen? Oder wie muss man ein Gesetz auslegen? Meistens finden wir eine Lösung, selbst wenn es nur ein Vergleich ist, den beide Seiten akzeptieren können.
Kommt es auch zu Rechtsfällen?
Wenn wir der Meinung sind, dass die anfragende Person im Recht ist, die Gesellschaft aber an ihrem Entschluss festhalten will, legen wir unsere Rechtsauffassung den Betroffenen schriftlich dar. Wir empfehlen dann, einen Anwalt zur vertieften Prüfung der Prozessaussichten hinzuzuziehen.
Was ein bisschen schade ist. Aber das passiert nicht sehr häufig, höchstens einmal oder zweimal pro Monat.
Sie sind seit 2010 als Ombudsmann tätig. Was hat sich seither verändert?
Viele Leute sind fordernder geworden und glauben, einen Anspruch auf kostenlose anwaltliche Vertretung zu haben. Das war früher anders.
Auch der Umgangston ist teilweise rauer geworden. Viele Leute zweifeln Behörden und Institutionen und deren Aussagen an – auch unsere Informationen und Auskünfte.
Zunehmend informieren sich Leute auch via künstliche Intelligenz, Stichwort Chat GPT, die aber leider die Informationen weltweit zusammensucht. Das kann zu Fehleinschätzungen führen, denn bei uns gilt Schweizer Recht.
Zudem steigt die Zahl jener, die kein Deutsch sprechen und auf Englisch kommunizieren. Das hängt natürlich mit der Zuwanderung von Expats zusammen.
Wie verändert sich die Branche?
In verschiedenen Bereichen habe ich festgestellt, dass es eine gewisse Entsolidarisierung gibt. Wie im Autoversicherungsbereich, wo man Prämien individuell gestaltet. Wenn man Versicherungsvolumen im Verhältnis zu den Anfragen setzt, sind unsere steigenden Fallzahlen immer noch recht klein. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass rund 45 Prozent der Schweizer Haushalte eine Rechtsschutzversicherung haben.
Was sich sicher auch verbessert hat, sind die internen Beschwerdemanagements der Versicherungsgesellschaften: Viele Beschwerdefälle können sie so selber erledigen.
Was wünschen Sie sich für die nächsten zwölf Monate?
Dass die Versicherten und Versicherungen mehr Frieden miteinander haben. Zufriedene Versicherte und zufriedene Versicherungen.