Ein Börsenchart geht um die Welt – und er verheisst nichts Gutes. Im Gegenteil: Er ist sogar ein echter Schocker. Er zieht eine direkte Parallele zwischen dem Börsencrash von 1929 und heute. Will sagen: Die jetzige Aktienhausse könnte genauso abrupt enden wie in der Grossen Depression.
Der Chart (siehe interaktive Grafik am Textende) zeigt eine erschreckende Parallele: Zunächst ging es von Anfang 1928 bis zum September 1929 ähnlich steil nach oben wie heute. Dann kam der brutale Absturz. Schon im November 1929 war der amerikanische Dow Jones Index, der im Oktober sein Hoch bei 381 Punkten erreicht hatte, nur noch halb so viel wert.
Jetzt kommt das Frappierende: Legt man die damalige und die heutige Kursentwicklung übereinander, befinden wir uns heute exakt an dem Punkt vor dem grossen Absturz. Suggestiv erscheint die Parallele vor allem dadurch, dass die einzelnen Hochs und Tief der Aufwärtsbewegung deckungsgleich erscheinen.
Beim Crash vom Oktober 1929 stürzte der Aktienmarkt binnen weniger Tage um 25 Prozent ab. Übertragen auf den Deutschen Aktienindex hiesse das, dass der Dax von aktuell 9700 auf rund 7250 Zähler abschmiert – beim Swiss Market Index (SMI) würde dies einem Rückschlag von rund 8400 auf 6300 Punkte entsprechen.
Chart sorgt für Aufsehen in sozialen Medien
In Foren und in den sozialen Medien hat der Chart schon einiges Aufsehen hervorgerufen. Das bei Privatanlegern beliebte US-Webportal «MarketWatch» weist ihn als die meist abgerufene Grafik des Jahres aus. Manche reden bereits vom «Chart of Doom» (zu deutsch: Grafik des Untergangs). Andere fragen «Apocalyse now?»
Selbst an der Wall Street macht der «Chart of Doom» Furore. «Ich bin schon mehr als 40 Jahren im Geschäft, aber so eine Reaktion habe ich noch nicht erlebt», sagt Jeffrey Saut, Chefstratege beim Brokerhaus Raymond James. Kaum sei der Chart publik geworden, sei sein Postfach nahezu übergequollen mit Kommentaren und Nachfragen.
Allerdings äussert Saut seine Zweifel, dass der Chart irgendeine Prognosekraft besitzt. «Inhaltlich sehe ich trotz der oberflächlichen Ähnlichkeiten keine Übereinstimmung», sagt der Experte. Der Umgang der Notenbanken und der Politik mit der Krise sei damals zum Beispiel ganz anders gewesen als heute.
Anlageberater verärgert über den «Chart of Doom»
«Dieser vermaledeite Chart mit dem Vergleich von 1929 und heute ist nicht totzukriegen», schimpft Joshua Brown, Anlageberater in New York, der den einflussreichen Börsenbrief «The Reformed Broker» herausgibt. Dennoch beunruhigt ihn die virale Kraft der Grafik: «Solche falschen Parallelen können ihre eigene Realitäten schaffen, indem sie Investoren zu falschen Entscheidungen drängen.» Für ihn ist der Chart eine Form von «Finanz-Pornografie».
«Ich halte das für Panikmache», sagt auch Carsten Brzeski, Chefvolkswirt bei der ING DiBa. Der erfahrene Kapitalmarktexperte sieht keine neue Krise von Amerika ausgehen. Vielmehr sei das Land dank billiger Energie auf dem Weg, sich zu reindustrialisieren und der Weltwirtschaft neue Impulse zu geben.
Saut drückt es wie folgt aus: «Dass soviel Aufhebens um eine Grafik gemacht wird, verrät eher etwas über die mentale Verfassung der Investoren als über die Realitäten am Markt.» Schaue man genau hin, sehe man zum Beispiel, dass die Skala angepasst worden sei, damit sich 1929 und 2014 auch wirklich ähneln. «Ich habe so etwas schon häufiger erlebt: Immer wurden Charts so arrangiert, um einen Crash zu suggerieren», sagt Saut. Doch die historische Analogie breche spätestens dann zusammen, sobald man sich die unterschiedlichen Voraussetzungen vergegenwärtige.
Gravierende Unterschiede zwischen heute und damals
Tatsächlich existieren gravierende Unterschiede zwischen heute und der Welt vor 85 Jahren. In den Jahren 1928 und 1929 hatte die US-Notenbank den Leitzins zum Beispiel angehoben und Geld damit verteuert. Damit wollte sie der Spekulationswut entgegenwirken. Heute ist das – zumindest bisher nicht – der Fall.
Jedoch hat die Fed vor Kurzem damit angefangen, ihre Liquiditätsspritzen zurückzufahren: Anstelle von monatlich 85 Milliarden gibt sie jetzt nur noch 65 Milliarden für liquiditätssteigernde Anleihenkäufe aus. Die meisten Beobachter erwarten, dass dieses «Tapering» spätestens bis Jahresende ganz abgeschlossen sein wird. Gleichwohl dürfte der Leitzins weiter bei nahe Null bleiben.
Eine weitere nicht ganz von der Hand zu weisende Parallele ist die Neigung, spekulative Positionen auf Pump einzugehen. Diese «Margin Debt» genannten Wertpapierkredite haben an der Wall Street zuletzt einen Rekordstand 445 Milliarden Dollar erreicht, doppelt so viel 2009.
Verschuldung steigt mit den Aktienkursen
Zu bedenken ist dabei, dass das Volumen der Margenkredite normalerweise mit dem Kursniveau nach oben geht. Schliesslich dienen bei diesen Darlehen Aktien als Sicherheit: Je höher die Notierungen, desto höher das potenzielle Kreditvolumen. So gesehen wäre die Margin Debt eher ein nachlaufender Indikator als eine Omen, das Hinweise auf die künftige Entwicklung gibt. Am 31. Dezember hat der Dow Jones Index bei 16.576,66 Zählern ein historisches Hoch markiert.
Für Verunsicherung sorgt aber auch der Meisterspekulant George Soros. Dieser rechnet offenbar mit einem Kurssturz an der Wall Street: Zum Ende des vierten Quartals hat er nicht weniger als 1,3 Milliarden Dollar auf fallende Kurse gesetzt. Das geht aus dem Rechenschaftsbericht seiner Hedgefondsfirma Soros Fund Management hervor.
Danach hat seine Short-Position auf den Aktienindex S&P-500 um 154 Prozent ausgebaut. Die Wette auf fallende Kurse ist inzwischen die grösste Position in seinem Fonds.
Der Titel des Meisterspekulanten
Soros führt nicht umsonst den Titel Meisterspekulant, er gilt als einer der gewieftesten Investoren an den Märkten. Seinen Ruf hat er spätestens Anfang der 1990er-Jahre begründet, als er die Bank von England in die Knie zwang und damit Milliarden verdiente. Aber auch am jüngsten Aufschwung in den europäischen Peripheriestaaten hat Soros klotzig verdient.
Im Unterschied zu 1929 hat die Spekulation noch keine breiten Bevölkerungsschichten erfasst. Sie bleibt auch in den USA auf wenige Investoren bestränkt. In Europa ist von Börseneuphorie wenig zu spüren. In Deutschland – wo mit dem «Chart of Doom» die Parallele zwischen Dow Jones und Dax hergestellt werden soll – sind nicht einmal zehn Prozent der Menschen in Aktien engagiert. Vom schnellen Reichtum an der Börse träumt heute, anders als damals, kaum jemand. Der Hauptgrund dafür sind die traumatischen Erfahrungen der «Generation Telekom».
Drei schwere Kursstürze in den vergangenen 20 Jahren
In den vergangenen 20 Jahren mussten Anleger drei schwere Kursstürze verkraften: Im Jahr 1998 liess die Pleite des Hedgefonds LTCM den Dax binnen weniger Wochen um 38 Prozent einbrechen.
Unmittelbar nach der Jahrtausendwende platzte die New-Economy-Blase, woraufhin sich der Aktienmarkt nahezu viertelte. Viele Neuaktionäre verloren einen Großteil ihres eingesetzten Kapitals.
Im Jahr 2008 kam dann der nächste Crash. Er ging vom Zusammenbruch des amerikanischen Hypothekenmarkts aus, griff aber schnell auf die schwachen Euro-Staaten über. Allerdings haben sich Aktien langfristig als lukrativste Form der Geldanlage erwiesen.
Dieser Artikel ist zunächst in unserer Schwester-Publikation «Die Welt» erschienen.