Ein Quant ist er. Jürgen Hakala studierte Mathematik und Physik und baut seit 15 Jahren Modelle. Modelle, welche das Eintreten künftiger Ereignisse abschätzbar machen sollen. Modelle, auf die sich die Finanzbranche rund um den Erdball verlassen. Modelle, die nach der Finanzkrise als Formeln der Katastrophe verschrien sind. Kein Wunder: Im Zuge der Krise mussten Finanzinstitute weltweit über 2000 Milliarden Franken an Verlusten und Abschreibungen hinnehmen - allein bei der UBS waren es über 50 Milliarden. Das Finanzsystem entkam nur knapp dem Kollaps.

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Auf der Suche nach den Schuldigen wurde man unter anderem bei den Finanzmathematikern fündig. Vor allem bei deren Anwendung der Gaussschen Glockenkurve. «Die Formel, die die Wall Street killte», schrieb das Magazin «Wired». Sie wurde in vielen Finanzhäusern für die Risikoeinschätzung von komplexen, gebündelten Subprime-Hypothekenpapieren eingesetzt. Das Modell ist einfach: Das Gausssche Gesetz besagt, dass sich Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen in Glockenform verteilen - wenig Extremfälle an den Rändern, die Masse im Mittelbereich. «Bereits lange vor der Krise haben sich die Unzulänglichkeiten dieses simplen Modells gezeigt», sagt Hakala, der bei EFG Financial Products arbeitet.

Angewandt wurde es trotzdem. Denn es lockten die ganz grossen Gewinne. Dabei waren sich wohl die meisten bewusst, dass die Gausssche Normalverteilung für die Risikobeurteilung der «toxischen Papiere» nicht taugt. «Das Modell ist ungeeignet für Krisenzeiten, weil Extremereignisse nicht erfasst werden und das Konzept auf historischen Daten aufbaut», sagt Claudia Klüppelberg, Inhaberin des Lehrstuhls für Mathematische Statistik der Technischen Universität München. Das Modell funktioniert nicht, wenn Märkte austrocknen und das ganze Finanzsystem in eine Krise schlittert. «Es täuscht eine falsche Sicherheit vor», sagt Klüppelberg.

Heute ist das Geschäft mit den toxischen Papieren praktisch tot. Die Quants sind deshalb nicht arbeitslos. Sie haben häufig im Risikomanagement der Banken neue Aufgaben gefunden. Mit den vielen neuen Bestimmungen gibt es dort heute mehr zu tun. Im Vergleich zur Arbeit an der Front, wo zum Beispiel Hakala strukturierte Produkte modelliert, ist der Job jedoch weniger attraktiv, auch lohnmässig. Häufig beginnen die Quants ihre Karriere nämlich im Risikomanagement und arbeiten sich dann ins Front-Office vor - wo Jahreslöhne von 300 000 bis 500 000 Franken für Kader üblich sind.

Zahlen als Wahrheit missverstanden

Dabei haben an sich nicht die mathematischen Modelle versagt. Sie gelten nur unter bestimmten Annahmen und sind nie mehr als Abbilder der Wirklichkeit. Die Anwender müssen diese Grenzen kennen. Dies ist in der Praxis allerdings nicht immer einfach. Allein schon die Tatsache, dass der Computer ein komplexes Modell durchrechnet und Zahlen ausspuckt, vermittelt schnell ein übertriebenes Gefühl von Sicherheit und Kontrolle.

So hatten sich die Finanzleute in den letzten Jahren zum Beispiel sehr an die internen «VaR-Reports» gewöhnt, die Berichte zum Value-at-Risk (Wert im Risiko). «Irgendwann wurden die Zahlen schon als Wahrheit missverstanden», sagt Jörg Behrens, Partner der Beratungsfirma Fintegral Consulting. «Value-at-Risk wurde teilweise auch für Stresstests und Krisensituationen benutzt, in denen diese Risikozahl völlig ungeeignet ist.»

In den letzten 20 Jahren ist der Value-at-Risk (siehe Kasten) zur zentralen Risikozahl in der Finanzbranche aufgestiegen. Sie gibt an, welchen Wert der Verlust einer bestimmten Risikoposition mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit und in einem gegebenen Zeithorizont nicht überschreitet (siehe Kasten). Ein Value-at-Risk von 30 Millionen bedeutet zum Beispiel, dass der Verlust mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent in den nächsten zwei Wochen nicht mehr als 30 Millionen betragen wird. Nun ist es aber eben möglich, dass in den verbleibenden 1 Prozent eine riesige Bedrohung lauert.

Ein solcher statistischer Ausreisser, der vom Modell nicht erfasst wird, kann für ein Finanzinstitut fatale Folgen haben. Im Fall eines grossen Verlusts steht zu wenig Eigenkapital bereit. Der Grund liegt darin, dass die Risikozahl ein wichtiger Bestandteil der Eigenmittelvorschriften für die Banken ist. Dies obwohl es heute bessere Alternativen gibt wie etwa den Expected Shortfall. Dieses Risikomass macht im Falle eines Ausreissers eine Aussage zur erwarteten Grösse des Verlustes.

Der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, der die Eigenmittelvorschriften für die Banken weltweit festlegt, prüft dagegen Verbesserungsmöglichkeiten. So werden nun für die Berechnung des Value-at-Risk nicht nur Zahlen aus dem letzten Jahr, sondern auch aus früheren Krisenzeiten verwendet. «Für die Qualität des Risikomanagements sind vernünftige Annahmen über die Verteilung genau so wichtig wie das gewählte Risikomass», sagt Josef Teichmann, Professor für Finanzmathematik an der ETH Zürich.

Sicherheitspuffer für Modellrisiken

Trotz der jüngsten Anpassungen können die Risiken mit Hilfe der Finanzmathematik nicht ganz kontrolliert werden. Restrisiken verbleiben, auch wenn verschiedene Modelle beigezogen werden. Denn durch ihre Verfeinerung werden die Modelle immer komplexer, ohne dass die Unsicherheit ganz ausgeschaltet wird.

Für Finanzinstitute gibt es daher nur ein Mittel: Die Unsicherheit zu akzeptieren und von Beginn weg genügend grosse Kapitalpuffer einzubauen. Populär ist das freilich nicht. Denn es kostet Kapital.