Das heisseste Wirtschafts-Begriff dieser Tage lässt sich schwer auf Deutsch übersetzen: «Melt-up». Man könnte ja vielleicht von einem Börsen-Run reden. Oder von Panikkäufen. Aber das unterschlägt, dass ein «Melt-up» irgendwie das Gegenteil eines Börsen-Crashs darstellt.
Und dass dieses Gegenteil auch gefährlich ist.
Vor solch einem «Melt-up» warnte nun Larry Fink, der Gründer und Chef von Blackrock, also einer der wichtigsten Geldmanager der Welt. Den Börsen drohte derzeit weniger ein Einbruch, sagte Fink in einem TV-Auftritt, der auch bei uns intensiv beachtet wurde. Vielmehr könnten sie sogar nach oben durchdrehen.
Denkbar sei eine Stampede von Anlagegeldern in die Aktienmärkte. Denn mehr und mehr Investoren würden befürchten, einen stur weiter laufenden Aufschwung zu verpassen. Sie werfen daher nochmals grosse Summen hinein: Better late than never.
Seit der Blackrock-Guru das Wort vom «Melt-up» ausgegeben hat, wird es eifrig diskutiert in der Finanzwelt (siehe etwa hier, hier, hier und hier). Denn in der Tat scheint der Begriff die jüngste Börsenentwicklung zu spiegeln: Im Dezember noch war es an den Weltbörsen zu einem schweren Rückschlag gekommen – was vielen überfällig erschien. Doch dann zogen die Kurse plötzlich doch wieder an.
Ob SMI, Dax oder S&P: Innert weniger Wochen ergab sich ein Plus von über 15 Prozent.
Die Furcht, etwas zu verpassen
Ein schneller Anstieg, ein unerwarteter Anstieg, ein stimmungsgetriebener Anstieg, und das bei hohen Umsätzen: All dies sind Elemente dessen, was Börsenhändler gern «Melt-up» nennen.
Nur: Diese Entwicklung führt oft dazu, dass sich die Kurse allzu sehr von ihrer fundamentalen Basis lösen – eben weil das Momentum (beziehungsweise die Furcht, etwas zu verpassen) allzu mächtig wird.
Für Christoph Schenk passt all dies ganz gut zur heutigen Lage: «Der Markt ist momentan stark von einer guten Stimmung getrieben», sagt der Chief Investment Officer der Zürcher Kantonalbank. «Die Investoren sind fast schon übereuphorisch. Man setzt auch wieder vermehrt in zyklische Aktien – ebenfalls ein Zeichen für grossen Optimismus.»
Der Fall 1997/1998
ZKB-Anlagechef Schenk erinnert dabei an ein Melt-up-Szenario, das vor gut zwei Jahrzehnten eintrat: Damals, 1997, legte der Schweizer Börsenindex SMI innert eines Jahres um 50 Prozent zu – mit der Folge, dass viele institutionelle Anleger der Sache langsam misstrauten. Sie realisierten ihre Gewinne. Doch in den ersten Monaten 1998 zogen die Kurse stur weiter aufwärts, was die Anleger dazu verführte, nun auf dem höheren Niveau doch wieder einzusteigen.
Prompt schlitterten sie in den Rückschlag, der nach der Russland-Krise und mit dem Zusammenbruch des LTCM-Hedgefonds ab Juli 1998 die Weltmärkte erschütterte.
Das zeigt: Solch ein Melt-up entpuppt sich Rückblick manchmal als Warnsignal – als Hinweis, dass ein Bullenmarkt an sein Ende gekommen war. Das macht es zum Verwandten der «Dienstmädchenhausse» (also jener Situation, wo ein Börsenboom breitere Bevölkerungsschichten dazu verführt, ebenfalls mitzuspekulieren – oft zu spät). Ein Unterschied liegt darin, dass bei einem Melt-up die institutionellen Anlagegelder eine stärkere Rolle spielen; beziehungsweise der Druck, der auf den Profis lastet.
Die grosse Quizfrage: Goldilocks Ja oder Nein?
Auf diesen Aspekt hat Larry Fink in seiner Analyse hingewiesen: Der Blackrock-Chef berichtete, dass immer noch viele institutionelle Anlagegelder auf der Seite liegen, trotz der stetigen Aufwärtsentwicklung der Aktienmärkte in den letzten Jahren. Viele Investment-Manager hätten momentan das Problem, dass sie unterinvestiert sind, und dies weltweit.
Eine ungemütliche Lage? Für Christoph Schenk wird nun jedenfalls eine Frage sehr entscheidend: Kann die Wirtschaft noch lange auf dem soliden Mittelweg der letzten Jahre weitersegeln? Mit tiefen Zinsen, geringer Inflation, guter Konsumentenstimmung, schönen Wachstumsraten? Falls ja, dann muss ein Melt-up nicht unbedingt in eine Blase führen.
Aber Schenk misstraut der Goldlöckchen-Hoffnung: Er rät langsam zur Vorsicht bei Aktienanlagen. «Die ZKB ist nun bei den Aktien neutral positioniert.»
Dotcom: Melt-up meets Dienstmädchenhausse
Ein fatales Fallbeispiel der anderweitigen Entwicklung erlebte man in den Jahren 1999 und 2000: halb Melt-up-Situation, halb «Dienstmädchen-Hausse». Auf mehreren Ebenen spielte damals die Furcht, die einmalige Chance einer «New Economy» zu verpassen, eine starke Rolle dabei, dass sich die Aktienkurse total von den Ertragschancen der Unternehmen entfernten. Am Ende stand die Börsenwelt vor einer Situation, die als Dotcom-Blase im Gedächtnis geblieben ist. Sie platzte im März 2000.
Das Problem: Auch ein Melt-up wird erst im Nachhinein klar erkennbar. Und so stellt sich auch hier wieder die Frage des Timing.
Tatsächlich hatte Jeremy Grantham – also ein ähnlich angesehener Börsenguru wie Larry Fink – bereits im Januar 2018 einen Melt-up vorausgesagt. Der US-Index S&P-500 könnte in den nächsten knapp zwei Jahren noch bis auf 3'600 Punkte hochziehen, so Grantham; danach aber komme es zum ganz grossen Einbruch.
Freilich musste GMO-Chefstratege Grantham dann im Herbst seine eigenen Voraussagen etwas herunterschrauben: Der prophezeite Optimismus-Boom war doch nicht voll ausgebrochen. Dass der amerikanische Präsident solch einen Handelsstreit vom Zaun brechen könnte, hatte er dann doch nicht erwartet.