Dramen beginnnen nicht selten mit scheinbar harmlosen Ereignissen. Bei Hans Nützi war es der Berufswunsch, der sich nicht erfüllte. Er träumte einst von einer Karriere als Chirurg. Stattdessen schaffte es der gross gewachsene Sohn eines Viehhändlers aus dem solothurnischen Aeschi nur zum Bankangestellten - immerhin bis ganz nach oben in der ältesten Privatbank der Schweiz.
«In beiden Berufen steht der Mensch im Mittelpunkt», tröstet sich der Chef der Clariden Leu schon mal, wenn ihm das verpasste Dasein als Mediziner wieder bewusst wird. Banking wirkt in Nützis Leben wie die zweitbeste Lösung. In einer Welt, wo nur das Beste gut genug ist, kann das allerdings nicht ewig gut gehen.
Der Tag der Wahrheit dürfte bald kommen. Kaum eine andere Bank beschäftigt derzeit die Gerüchteköche der Branche wie Clariden Leu. Das Institut steht an einem Wendepunkt. Aus fünf Tochterbanken schuf die Credit Suisse 2007 dieses Kunstprodukt mit Hauptsitz an der noblen Zürcher Bahnhhofstrasse. Auf Touren kam es nie.
Mit ihrer dicken Eigenkapitaldecke steht die Bank zwar solide da. Doch ertrags- und kostenseitig überzeugt sie nicht. Seit 2008 fliesst in den Depots mehr Geld ab, als neue Mittel hinzukommen, wie die beiden Finanzanalysten Philipp Zieschang und Daniele Brupbacher von der UBS errechnet haben. Gleichzeitig explodierten im 1. Halbjahr 2010 die Kosten: Bei jedem eingenommenen Franken frass der Aufwand 72 Rappen weg; Ende 2006 waren es erst 47 Rappen gewesen.
Die Führungstruppe um den 56-jährigen Nützi schaffte es bislang nicht, der Bank Konturen zu geben. Das Institut ist heute weniger wert als die Summe seiner Teile bei der Fusion Anfang 2007.
Will die Bank nach dem faktischen Ende des Bankgeheimnisses als eigenständige Marke auf dem Finanzplatz überleben, drängt sich nun ein Befreiungsschlag auf. Denn inzwischen leidet auch die Zufriedenheit des Personals bedenklich. Allein in den vergangenen zwölf Monaten musste die Bank rund 400 Abgänge verdauen, darunter befanden sich zum Teil langjährige Mitarbeiter ein schwerer Aderlass bei insgesamt 1734 Beschäftigten. «Mehr als 20 Jahre hielt ich der Bank die Treue, bis die Strategie für mich nicht mehr aufging. Da bin ich gegangen», sagt ein früherer Top-Private-Banker des Hauses stellvertretend für manch anderen.
Kollision der Kulturen
Dabei ist Clariden Leu mehr als nur eine mittelgrosse Privatbank, die noch knapp 100 Milliarden Franken verwaltet - 30 Milliarden Franken weniger als Ende 2007. Das Institut steht für die wechselvolle Geschichte des Swiss Banking. In den letzten fünfzig Jahren entwickelte es sich zu einem beispiellosen Erfolgsmodell, bevor es durch das unbändige Grössendenken mancher Manager und durch die Kollision unterschiedlicher Kulturen in die Krise schlitterte.
Clariden und Leu symbolisieren Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Die Bank Leu, 1755 als Geldhaus des Zürcher Stadtstaats vom späteren Bürgermeister Johan Jacob Leu massgeblich initiiert, rettet 1798 ihre Einlagen vor den heranrückenden Truppen aus Frankreich. Die Privatisierung verhindert die Enteignung. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wird das Institut gross.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt die Entwicklung zur Universalbank. Ende der 80er-Jahre ist die «Leu» mit ihren 1800 Mitarbeitern allerdings zu gross für eine Nischenstrategie. Um sich gegen die Rivalen Bankgesellschaft, Kreditanstalt und Bankverein zu behaupten, reicht die Grösse jedoch nicht. Die Bank Leu gerät auf den Radar potenzieller Käufer. Schliesslich greift 1990 der damalige CS-Patron Rainer E. Gut zu, um den Schwyzer Financier Martin Ebner an einer Übernahme zu hindern. So fällt die «Leu» der CS zu, während «Leu»-Verwaltungsratspräsident Kurt Schiltknecht die Seite wechselt und zum Vertrauten Ebners wird.
Verärgerte Kleinkunden
Das Beispiel zeigt, wie sich in den 90er-Jahren langsam Machtstreben und Grössenwahn in der Schweizer Finanzbranche breitmachen. Nicht ohne Konsequenzen: Die CS baut die Bank Leu zum Geldhaus für Reiche um und verärgert ihre Kleinkunden, die zur CS abgeschoben werden. Trotz anfänglicher Euphorie gelingt es der Bank Leu nie mehr, aus dem Schatten der übermächtigen Mutter herauszutreten.
Ganz anders verläuft die Geschichte der wesentlich jüngeren Clariden Bank. Das Institut hat seine Wurzeln in der US- Investmentbank White Weld, mit der die Credit Suisse seit den 60er-Jahren in wechselnden Konstellationen kooperiert. Das Geschäft in Europa verlagert sich mit der Zeit zunehmend auf die Verwaltung von Privatvermögen. Der Schweizer Ableger wird in die an der Zürcher Claridenstrasse domizilierte Clariden Finanz übergeführt. 1973 erhält das Unternehmen den Bankenstatus und wird zur Clariden Bank. Das Institut steigt schnell zur exklusivsten Adresse auf dem Finanzplatz auf. Wie bei Privatbanken üblich sind die Direktoren am Unternehmen beteiligt. Die Credit Suisse erhöht allerdings laufend ihren Anteil.
Der Erfolg scheint programmiert. Das Geldhaus gilt als Talentschmiede für spätere Finanzkoryphäen wie Börsenguru Marc Faber oder UBS-Chef Oswald Grübel. Viele Investmentbanker der Credit Suisse First Boston und höchste CS-Manager lassen einen Teil ihres Geldes dort verwalten (siehe Kasten).
Spätestens Mitte der 90er-Jahre geniesst das florierende Unternehmen unter Alex Hoffmann und F. Bernard Stadler beinahe Kultstatus. «Für jeden Banker war es eine Ehre, dort zu arbeiten», erinnert sich Beat Wittmann, der 1995 zu Clariden stiess.
Nach der Jahrtausendwende ändern sich freilich die Zeiten. Das Grössendenken in der Schweizer Bankbranche kennt nun gar keine Grenzen mehr. Im Nachgang zur UBS-Fusion von 1998 reisst sich der neue Schweizer Bankriese im Frühsommer 2000 das US-Brokerhaus PaineWebber für 18 Milliarden Franken unter den Nagel. Die CS schluckt daraufhin die US-Investmentbank Donaldson, Lufkin & Jenrette für knapp 20 Milliarden Franken. Beide Übernahmen erweisen sich als strategische Fehlschläge, weil sich die unterschiedlichen Kulturen dies- und jenseits des Atlantiks nicht fusionieren lassen.
Das Ausnutzen von Grössenvorteilen bleibt indessen das Mantra: 2005 reift bei der Credit Suisse die Idee, die Banken Clariden, Leu, Hofmann sowie die Tessiner Banca di Gestione Patrimoniale (BGP) und die Effektenhändlerin CS Trust zu fusionieren - «weil zu viele Töchter im selben Geschäft tatsächlich wenig Sinn machen», meint der emeritierte Finanzprofessor Hans Geiger rückblickend. «Zusätzlich liebäugelte die CS mit der Option, ein solches Gebilde gewinnbringend an die Börse zu bringen oder als Gesamtpaket zu verkaufen», erinnert sich ein Beteiligter. Vielleicht fühlte sich die CS aber auch nur unter Zugzwang, nachdem die UBS ihre Privatbanken bereits zusammengeführt hatte und sie später der Julius Bär verkaufen sollte.
Wenn sich heute die Existenzfrage für Clariden Leu stellt, dann finden sich die Ursachen dafür schon in den Geburtswehen des Unternehmens. Bereits die Bestellung der operativen Spitze geriet zum Powerplay, nachdem Leu-CEO Hans Nützi und der joviale Clariden-Chef F. Bernard Stalder ihre Ambition angemeldet hatten. Wobei Stalder zunächst das Rennen machte. Die übrigen drei Fusionspartner, BGP, Fides und Hofmann, mussten sich mit einer Statistenrolle begnügen. Das führte vor allem bei der Bank Hofmann, die über ein starkes Deutschland-Geschäft verfügte, zum ersten richtigen Aderlass im Management.
Clariden Leu war alles andere als eine homogene Gruppe. Umso mehr litt das Profil der Bank unter den Hahnenkämpfen. Je nach Konstellation im Top-Management änderte die Ausrichtung, was bald zu prominenten Abgängen führte: Mit Star-Banker Beat Wittmann lief ein gutes Dutzend Beschäftigte zu Julius Bär über. Fast zwanzig Leute folgten Private Banker Rémy L. de Bruyn zur LGT Group. Nach über zwanzigjähriger Firmentreue warf später auch Geschäftsleitungsmitglied Roland Knecht das Handtuch und heuerte bei der Banque Heritage an.
Wie aus heiterem Himmel kam indessen der Abgang von F. Bernard Stalder im Herbst 2007. Später wurde bekannt, dass ihm der Machtkampf im Top-Management dermassen zugesetzt hatte, dass er zeitweilig hospitalisiert werden musste. Als er die Konsequenzen zog, rückte Hans Nützi nach. Anfang 2008 verkündete er selbstbewusst: «Wir wollen überdurchschnittlich wachsen. Im Private Banking bedeutet das einen Anstieg der verwalteten Vermögen von 7 Prozent.»
Doch mit seiner Ankündigung erwischte Nützi den falschen Zeitpunkt. Bald tobte die Finanzkrise. Die Depots bei Clariden Leu schrumpften. Arg erwischte es die Bank im Herbst 2008, als es bei einer Kundenposition zu einem Handelsverlust in dreistelliger Millionenhöhe kam. Das rief sogar die Aufsichtsbehörden von Singapur auf den Plan. In der Folge wurden viele Top-Leute degradiert oder entlassen. Hektisch setzte die CS mit Erich Pfister einen Mann aus ihren Reihen ein, der als Asien-Chef aufräumen sollte.
Dem Schweizer Geschäft erging es nicht viel besser. Ein von der Basler Bank Sarasin abgeworbenes Team holte am Rheinknie nie die erhofften Kundengelder herein. In Genf blieb das Neugeld weit hinter den Erwartungen zurück.
Mittlerweile macht es bei Clariden Leu den Anschein, als mobilisiere man zum letzten Gefecht. In Asien wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Seit 2009 engagierte Erich Pfister rund 50 Leute, darunter Jimmy Lee. Der Star von der Deutschen Bank wechselte nur gegen eine astronomische Transfersumme die Fronten, erzählen Banker in Singapur. Bis Clariden Leu in Asien schwarze Zahlen schreibt, wird es indessen noch eine Weile dauern.
In der Schweiz hat die Bank nicht so viel Zeit. In einem Markt, wo sich nach dem hemmungslosen Offshore-Banking so viele Häuser tummeln wie noch nie, wird mit harten Bandagen gekämpft. Adrian V. Nösberger, Chef Private Banking Schweiz bei Clariden Leu, stellt indessen klar: «In allen Niederlassungen in der Schweiz ist Clariden Leu im letzten Jahr mit Schweizer Kunden gewachsen - und zwar jedes Quartal.»
Abgang einer Top-Kundin
Branchenleute bezweifeln diese Aussagen. Kürzlich musste die Bank den Abgang einer Top-Kundin mit mehr als 50 Millionen Franken Vermögen beklagen. Besonders irritierend ist aber, dass Chef Nützi kaum mehr nach aussen in Erscheinung getreten ist. Während Vontobel-Chef Herbert Scheidt, Boris Collardi von Julius Bär oder Sarasin-Chef Joachim Strähle sich häufig zu Wort melden und so eine aktive Rolle in der Neugestaltung des Schweizer Private Banking übernehmen, taucht Nützi unter. Zum Interview mit der «Handelszeitung» schickt er seinen Personalchef.
Nützis Tage an der Spitze von Clariden Leu seien gezählt, lautet ein hartnäckiges Gerücht. Die Bank dementiert dies. Solange er aber in der Defensive verharrt, beweist er kaum Führungsstärke. So war es CS-Private-Banking-Chef Walter Berchtold, der unlängst eine Integration von Clariden Leu in den Konzern dementierte. Eher solle die Bank als Plattform für eine Übernahme dienen, sagte er bei anderer Gelegenheit. Bislang ist aber noch nichts geschehen.
So wie sich die Finanzbranche nach ihrem fehlgeleiteten Drang zur Grösse neu erfinden muss, steht «die älteste Privatbank der Schweiz» heute vor ihrer grössten Bewährungsprobe. Bei diesem Vermächtnis setzt jeder Eingriff filigrane Technik mit dem Skalpell voraus. Nur ein echter Chirurg kann den Patienten retten.
Für Nützi gingen immerhin zwei wichtige Wünsche in Erfüllung. Er zog vom steuergünstigen Meggen ins noch günstigere Wilen im Kanton Schwyz - und zusammen mit seinem Bruder besitzt er am Burgäschisee bei Herzogenbuchsee eine Badeanstalt.
«Wir sind eine Boutique in einem Weltkonzern»
Stephan Peterhans, Head Human Resources, Communications & Marketing, Clariden Leu
Was hat die Fusion der Credit-Suisse-Banken bisher gebracht?
Stephan Peterhans: Vier Jahre nach dem Zusammenschluss ist Clariden Leu eine feste Grösse im Markt. Profitabilität, finanzielle Stabilität und eine exzellente Reputation sind die Attribute, mit denen man unsere Bank heute verbindet.
Trotzdem kam es in den letzten Jahren zu vielen personellen Abgängen.
Peterhans: Die Zusammenführung von fünf Instituten mit unterschiedlichen Kulturen führt unweigerlich zu einer vorübergehend erhöhten Fluktuation. Im letzten Jahr erfolgte aber eine Trendwende. Clariden Leu wird wieder als attraktive Arbeitgeberin wahrgenommen. Innert Jahresfrist erhielten wir über 13 000 Bewerbungen. Daraus konnten wir viele gut ausgebildete Mitarbeiter auswählen.
Für welche Kultur steht Clariden Leu?
Peterhans: Wir wollen zum «Employer of Choice» im Schweizer Private Banking werden. Dafür investieren wir in die Weiterentwicklung unserer Mitarbeitenden, das heisst in interne und externe Ausbildungsprogramme zur Beratungs-, Fach- und Führungskompetenz.
Wie kann sich Clariden Leu gegenüber ihrer Mutter Credit Suisse profilieren?
Peterhans: Wir haben ein eigenes Werteversprechen. Wir sind nah am Kunden und bieten massgeschneiderte Lösungen. Die positiven Rückmeldungen der Klientel zeigen, dass die Vorteile einer «Boutique in einem Weltkonzern» geschätzt werden.
Allerdings hat Clariden Leu in den letzten Jahren rund 30 Milliarden Franken an Kundengeldern eingebüsst.
Peterhans: Die Reduktion ist ein branchenweites Phänomen und im Wesentlichen auf negative Markteinflüsse und die Abschwächung ausländischer Währungen zurückzuführen.
Wo liegen die Prioritäten 2011?
Peterhans: Die Neupositionierung von Clariden Leu ist abgeschlossen. Nun wollen wir in unseren Kernmärkten qualitativ und profitabel wachsen. Wir haben die kritische Grösse und sind so aufgestellt, dass wir im Konsolidierungsprozess eine aktive Rolle spielen können.
Bisher ist aber nichts passiert.
Peterhans: Wir evaluieren verschiedene Optionen. Das Objekt muss zur strategischen Ausrichtung passen. Wir werden zu gegebener Zeit kommunizieren.
Wird die oberste Führungsebene personell weiter verändert?
Peterhans: Ein Um- oder Ausbau der Geschäftsleitung ist derzeit nicht geplant.