Hans M. handelte rasch. Ende Oktober entschied das Bundesgericht, dass Kunden Anspruch auf Provisionen haben, die eine Bank aus dem Verkauf von Fonds und strukturierten Produkten an ihre Kunden kassiert. Nur zwei Wochen später verlangte M. in einem Brief an die Zürcher Kantonalbank diese sogenannten Retrozessionen zurück.
Doch die ZKB-Banker liessen ihn abprallen (siehe Ausriss). Er habe seine Anlageentscheide selber getroffen und nicht der Bank delegiert, schrieb das Zürcher Staatsinstitut. Der Gerichtsentscheid gelte nur für Fälle, in denen der Kunde der Bank ein Vermögensverwaltungsmandat erteilt habe.
Noch argumentiert die ganze Schweizer Bankbranche so. Provisionen bei Beratungsgeschäften will man nicht zurückgeben. Doch das dürfte nur die letzte Schlacht in einem langen Krieg sein. Der politische Druck macht Retrozessionen zum Auslaufmodell – sowohl bei Vermögensverwaltungsmandaten als auch bei Anlageberatungen.
Banker bleiben hart
Diese Unterscheidung zwischen den beiden Geschäften wird durch die jüngste Massnahme der Finma ohnehin bereits verwischt. In einem Brief, der in den letzten Tagen bei den Banken eintraf, fordert die Aufsicht die Institute auf, bis Ende Februar alle in den letzten zehn Jahren vereinnahmten Retrozessionen zu melden. Es müssen Provisionen sowohl von Vermögensverwaltungsmandaten wie auch von Anlageberatungsgeschäften rapportiert werden. Die Finma will sich zu Details nicht äussern. «Die Finma versucht, sich in der Frage der Retrozessionen rasch ein ganzheitliches Bild über die Situation der Banken zu verschaffen», sagt Sprecher Tobias Lux. Die Finma überlässt es dabei den Banken, wie diese im Rahmen privatrechtlicher Regelungen mit den Kunden die Retrozessionsfrage lösen.
Die Migrosbank preschte als Erste vor, um das Urteil konsequent und kundenfreundlich umzusetzen. Sie kündigte an, für die letzten zehn Jahre einen Betrag von 4,2 Millionen Franken zurückzuerstatten. Die Gutschriften sollen den Kunden zufliessen, ohne dass sie von sich aus aktiv werden müssen. Aber auch die Migrosbank will nur Vermögensverwaltungskunden entschädigen. «Diese bezahlen bei uns eine ‹All-in-fee› und decken damit sämtliche Kosten der Bank ab», erklärt Albert Steck. Anders liege der Fall ausserhalb der Vermögensverwaltungskunden, meint der Migrosbank-Sprecher. Dort bestehe eine grosse Bandbreite von Kunden – von solchen, die eine Beratung der Bank beanspruchen, bis hin zu jenen, welche völlig eigenverantwortlich mit Wertschriften handeln. Vor allem existiere in diesem Bereich kein höchstrichterliches Urteil wie in der Vermögensverwaltung.
So mancher Jurist sieht das anders. Es gibt triftige Gründe dafür, dass der Bundesgerichtsentscheid vom letzten Oktober auch auf Anlageberatungen übertragbar ist. Die Lausanner Richter argumentierten, dass das Vermögensverwaltungsmandat einen Auftrag darstelle und dass die Entgegennahme von Retrozessionen der Bank die saubere Interessenwahrung des Auftraggebers, sprich des Bankkunden, verunmögliche. «Die grundsätzlichen Ausführungen des Bundesgerichtsentscheids treffen auch auf die Anlageberatung zu», erklärt Monika Roth. Die Advokatin der Kanzlei Roth Schwarz Roth weist darauf hin, dass auch die Anlageberatung wie die Vermögensverwaltung ein Auftragsverhältnis darstelle. Folglich habe die Bank dieselben Pflichten bei der Wahrung des Kundeninteresses zu erfüllen. Diese Sichtweise wird durch zwei Urteile des Zürcher Handelsgerichts vom 19. und 23. Mai 2011 gestützt. Darin machen die Richter keinen Unterschied zwischen Retrozessionen von Anlageberatungs- und Vermögensverwaltungskunden.
Solange jedoch kein höchstrichterliches Urteil vom Bundesgericht zu Anlageberatungskunden vorliegt, bleiben die Banker noch hart. Sie setzen darauf, dass es kein Anlageberatungskunde wagt, sein Recht bis vor Bundesgericht einzuklagen. Schliesslich handelt es sich oft um Kleinanleger. Das finanzielle Prozessrisiko steht für diese in einem Missverhältnis zu den geltend gemachten Retrozessionen.
«Wir prüfen derzeit, wie wir Anlagekunden bei allfälligem juristischem Vorgehen unterstützen können», erklärt Sara Stalder. Die Geschäftsleiterin der Schweizer Stiftung für Konsumentenschutz erläutert, dass ihre Organisation in Kontakt mit Fachspezialisten stehe und mit diesen verschiedene Möglichkeiten abkläre, wie Kleinanleger zu ihrem Recht kommen könnten. «Es geht dabei vor allem um Lösungen, die nicht nur einzelnen Fällen dienen, sondern breite Wirkung erzeugen», so Stalder. Unterdessen schaltet sich auch die Politik ein. Im Dezember reichte SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer eine Motion ein, in der sie die Offenlegung und Rückerstattung von Retrozessionen verlangt – für Vermögensverwaltungs- ebenso wie für Anlageberatungskunden.
In der Finanzbranche gibt es allerdings erste Anzeichen für einen Gesinnungswandel – zumindest bei den Privatbanken, wie eine Umfrage in der Schweizer Finanzbranche zeigt. In dem von Ernst & Young erhobenen «Bankenbarometer» äusserte rund die Hälfte der befragten Privatbanken, dass möglicherweise über die Vermögensverwaltungsmandate hinaus weitere Geschäfte durch das Bundesgerichtsurteil vom Oktober betroffen sein werden. In der Private-Banking-Branche erstattet bislang erst die junge, auf nachhaltige Investments spezialisierte Globalance Bank Retrozessionen aus der Anlageberatung konsequent zurück.
Retrozessionen als Auslaufmodell
Über kurz oder lang werden die Retrozessionen ohnehin verschwinden. Davon geht die Finanzbranche selber aus. In der Umfrage von Ernst & Young erwarten 70 Prozent der Schweizer Banken, dass die bisherige Vertriebsentschädigung keine Zukunft mehr hat. Dabei hat die Entwicklung im Ausland das Ergebnis mitbeeinflusst. Das EU-Parlament hat in seiner Lesung im Oktober die Finanzrichtlinie Mifid II verschärft. Retrozessionen sollen sowohl bei Vermögensverwaltungsmandaten als auch bei der explizit als «neutral» und «unabhängig» deklarierten Anlageberatung verboten werden. «Zudem sollen nach dem Willen des EU-Parlaments nationale Gesetzgeber die Retrozessionen auch in der übrigen bankgebundenen Anlageberatung verbieten können», erklärt Alex Geissbühler, Leiter Regulatory Financial Services bei KPMG Schweiz.
Das europäische Regelwerk Mifid II tritt Ende dieses Jahres in Kraft. Bis 2015 müssen es die einzelnen EU-Länder in nationales Recht umsetzen. Möglichst zeitnah wird auch das geplante neue Schweizer Finanzdienstleistungsgesetz in Kraft treten. Denn das Ziel der helvetischen Politik ist es, im Finanzbereich Mifid-konform zu legiferieren. «Bezüglich Anlegerschutz werde ich mich dafür einsetzen, dass wir uns an die Mifid-Regelung anlehnen und sicher nicht darunter bleiben», meint zum Beispiel die Nationalrätin Prisca Birrer-Heimo. Die Präsidentin der Konsumentenschutz-Stiftung werde die Entwicklung genau verfolgen und bei Bedarf das Thema in die nationalrätliche Wirtschaftskommission tragen.
Der Druck wächst also. «Ich bin überzeugt, dass die Banken nun ihre Gebührenmodelle überdenken müssen und Retrozessionen auch in der Schweiz unter dem Druck der Regulierung über kurz oder lang zu einem Auslaufmodell werden können», erklärt KPMG-Experte Geissbühler.
Für den Anlageberatungskunden Hans M. der Zürcher Kantonalbank kommt diese Entwicklung wohl zu spät. Ihm bleibt nur der Rechtsweg.
Rechtsprechung: Das Bundesgericht schränkt die Zulässigkeit von Retrozessionen Schritt um Schritt ein
Vermögensverwalter
2006 fällte das Bundesgericht einen wegweisenden Entscheid. Demnach verpflichtet die getreue Auftragserfüllung gemäss OR Art. 394 den unabhängigen Vermögensverwalter, von Banken erhaltene Retrozessionen dem Kunden weiterzugeben. Ausser der Kunde verzichtet ausdrücklich darauf. Der Verzicht ist nur gültig, wenn der Kunde über die Retrozessionen «vollständig und wahrheitsgetreu» informiert wird. Was das heisst, präzisierte das Bundesgericht 2011: Dem Kunden sei die Höhe der Rückvergütungen wenn nicht absolut, so wenigstens in einer prozentualen Bandbreite des Vermögens anzugeben. Diese Bandbreite darf aber nicht allzu breit formuliert sein.
Banken
Die Entscheide von 2006 und 2011 betrafen «nur» unabhängige Vermögensverwalter. Gleichwohl empfahl die Bankiervereinigung 2010 ihren Banken, Berechnungsgrundlagen oder Parameter von erhaltenen Drittleistungen gegenüber eigenen Vermögensverwaltungskunden offenzulegen. Auf dieser Basis verpflichteten die Banken ihre Vermögensverwaltungskunden zum Verzicht auf Retrozessionen. Zudem argumentierten die Banken, die von Fonds erhaltenen Vergütungen seien keine Retrozessionen und der Kunde habe daher keinen Anspruch. Stattdessen seien es «Vertriebsentschädigungen», mit denen die Fondsgesellschaft spezielle Services wie den Unterhalt von Fondsplattformen abgelte. Der Bundesgerichtsentscheid vom 30. Oktober 2012 widersprach und verpflichtete die Banken zur Herausgabe der Retrozession – im konkreten Fall gar bei bankeigenen Fonds. Umstritten ist, ob die Herausgabepflicht für die letzten zehn oder fünf Jahre gilt.
Beratungsgeschäft
Die Rechtsprechung des Bundesgerichts betrifft bislang nur Vermögensverwaltungskunden. «Es ist aber schwierig, zu argumentieren, dass nicht auch Rückvergütungen durch andere Kunden eingefordert werden können, die Produkte aufgrund einer Anlageberatung erwerben», meint Alex Geissbühler. Der Leiter Regulatory Financial Services bei KPMG weist darauf hin, dass man sich auch hier im Auftragsrecht gemäss OR Art. 394 befinde.
«Execution only»
Kaum Chancen für die Rückerstattung haben Kunden bei klaren «Execution-only»-Geschäften. Hier bezieht der Kunde von der Bank keinerlei Anlageempfehlungen. Stattdessen nutzt er die Bank nur für die Abwicklung von Börsenaufträgen