Tief einatmen und – herzlich willkommen! Vielleicht hast du dich angemeldet, um deinen Stresspegel zu reduzieren oder weil du etwas für deine Gesundheit tun möchtest. Schliesse jetzt die Augen», lockt eine weibliche Stimme beim ersten Einschalten der Achtsamkeits-App Calm. Mehr als 14 Millionen Mal wurde die digitale Anwendung bereits heruntergeladen, im vergangenen Jahr kamen täglich 40 000 neue Nutzer hinzu. Der Smartphone-Konzern Apple kürte Calm (Englisch für ruhig, gelassen) sogar zur App des Jahres. Finanzinvestoren sehen den Wert des Startups aus San Francisco bei mittlerweile 250 Millionen Dollar.
Bereits vor fünf Jahren gab einer von sieben Amerikanern an, mindestens einmal am Tag eine Achtsamkeitsübung auszuführen. Seitdem ist aus dem Trend dort längst eine boomende Industrie geworden, von der Verlage, Unternehmensberater, Yogastudios und Investoren profitieren.
Bei einer Google-Suche zu den Begriffen Achtsamkeit oder «mindfulness», wie es im Englischen viel schöner heisst, kommen rasch über 75 Millionen Treffer zusammen. Unzählige Bücher, Seminare und eben Apps geben Tipps zum Thema. Das renommierte «Time»-Magazin widmete der Bewegung vor kurzem eine 96-seitige Sondernummer, in der der Leserschaft Ratschläge zur digitalen Entgiftung, bewusster Atmung, Schlafverbesserung und Antiaging gegeben werden. Der Trend zur neuen Achtsamkeit habe einen Sprung nach vorne gemacht, so eine der Schlussfolgerungen. Sie ist gemäss «Time» heute überall.
Am Anfang einer Evolution
Wie Achtsamkeit genau erreichbar, ist allerdings nicht ganz eindeutig. «Einige sagen, es ist die Entspannung und das Beobachten. Andere sehen darin eher die völlige Neuausrichtung der inneren Haltung», beschreibt Zindel Segal, Psychologieprofessor an der Universität Toronto, die aktuelle Diskussion. Judson Brewer vom Institut für Mindfulness an der Massachusetts Medical School glaubt sogar, dass wir jetzt erst am Anfang einer Achtsamkeitsevolution stehen.
Als Gründer der Bewegung gilt jedenfalls der Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn. Der war dem Zen-Buddhismus zugeneigt und entwickelte in den siebziger Jahren einen Acht-Wochen-Kurs zur Reduzierung von Stress, bei dem die Schülerinnen und Schüler lernen, sich allein auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren (mindfulness-based stress reduction). Diese nichtspirituelle Meditation sollte sich unter anderem positiv auf chronische Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen oder leichte Herzbeschwerden auswirken.
Unternehmen nutzen Achtsamkeit
Aktuelle Studien belegen mittlerweile den Nutzen. So haben Datenauswertungen der wissenschaftlichen Zeitschrift «Jama Internal Medicine», die von der American Medical Association herausgegeben wird, gezeigt, dass Achtsamkeitpsychologischen Stress innert acht Wochen reduzieren kann. Forscher des Mindful Awareness Research Center der Universität von Los Angeles wiederum konnten belegen, dass Achtsamkeitsübungen wie Meditieren Nervenmuster im Gehirn positiv beeinflussen. Universitäten wie Stanford und die University of California, Berkeley bieten neben der eigenen Forschung sogar Ausbildungskurse zum Mindfulness-Lehrer an.
Entsprechende Programme werden in den USA bereits für Schulkinder angeboten, damit diese im Alltag besser zurechtkommen. Auch die US-Army rät Soldaten während Einsätzen zu Achtsamkeitsübungen. Ausgeglichenheit, Ruhe, Entspannung und vor allem die Fähigkeit, die Umwelt hier und jetzt intensiv wahrzunehmen, sollen zudem die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz fördern. Kein Wunder, ermöglichen grosse Konzerne wie Genentech, Google, Deutsche Bank, Astrazeneca, Procter & Gamble, Intel und SAP ihren Mitarbeitern regelmässige Achtsamkeits-Programme.
Im Sillicon Valley sind Yoga-Klassen, Ernährungsberatung und Meditationsecken selbst bei jungen Startups bereits Standard. Und von Twitter-Mitgründer Evan Williams ist bekannt, dass er in seinem neuen Unternehmen Medium selbst Achtsamkeitsmeditationen leitet. Sogar an der Börse hat der Achtsamkeitstrend erste Spuren hinterlassen. In den letzten zwei Jahren liessen sich mit Yogaworks und Gaia zwei spannende US-Unternehmen kotieren.
Yoga-Studio-Kette
Die an der Nasdaq gelistete Yogaworks ist darauf spezialisiert, kleine lokale Yogastudios zu übernehmen und sie unter ihrer Marke einheitlich auszurichten. Mittlerweile gehören über sechzig Yogastudios in mittleren und grösseren US-Städten wie Atlanta, Baltimore, Boston, Houston, Los Angeles, New York, San Francisco und Washington D. C. zur Yogaworks-Kette. Allen gemein ist ein einheitlicher optischer Auftritt sowie ein für alle Studios ähnlicher Stundenplan, der von Yogaworks-Ausbildern erarbeitet wird. Das Abschneiden an der Börse war bisher jedoch katastrophal.
Seit dem Tag der Erstkotierung im August 2017 sind die Titel von 5,50 auf 1,01 Dollar gefallen und bewegen sich nun in der Kategorie Penny Stocks. Die Marktkapitalisierung beträgt gerade mal 15 Millionen Dollar. Bankanalysten bemängeln, dass es dem Unternehmen zwar gelungen sei, in einem recht hohen Tempo neue Studios zu kaufen. Doch bisher sind nur die wenigsten wirklich profitabel. Yogaworks sei nicht in der Lage, Skaleneffekte zu nutzen, weshalb das Geschäftsmodell insgesamt infrage gestellt ist. Immerhin empfehlen drei von Bloomberg befragte Analysten die Titel zum Kauf, zwei raten zum Halten.
Das Netflix für Yoga
Ganz anders ist die Ausgangslage für Gaia, die erste Video-Streaming-Plattform für Achtsamkeit, Meditationen, Yoga und spirituelle Themen. Das Unternehmen aus Louisville, Colorado, bietet aktuell über 8000 Videos und Programme zur Auswahl, 93 Prozent davon sind exklusiv für Gaia produziert. Ein Abo kostet monatlich 9,95 Dollar. Bisher konnte Gaia etwas mehr als 300 000 Abos verkaufen, Ende nächsten Jahres soll es, auch dank der zunehmenden internationalen Kundschaft, 1 Million sein. Der Jahresumsatz betrug 2017 28,3 Millionen Dollar, was einem Plus von 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Profitabel ist das für Gaia wegen seiner hohen Anfangsinvestitionen aber noch nicht. Analysten nennen Gaia bereits das Netflix für Yoga und rechnen unter anderem damit, dass der kleine Nischenspieler bald von einem grösseren Konkurrenten geschluckt wird. Die Titel kamen zuletzt an der Börse etwas unter Druck.
Lululemon vor Nike
Für risikofähige Anleger bietet sich daher eine Kaufgelegenheit. Abgesehen von Gaia und Yogaworks haben auch etablierte Unternehmen einen Fuss im Achtsamkeitsmarkt. Allen voran die kanadische Bekleidungsmarke Lululemon, die mit ihren Yoga-Accessoires schon früh auf den Trend zur Selbstfindung gesetzt hat. Andere Sportmarken wie Reebok oder Nike versuchen ebenfalls, sich in diesem Bereich zu etablieren. Die zu Marriott gehörende Luxushotelkette W Hotels wiederum bietet ihren Gästen exklusive Yogaund Meditationskurse auf dem hoteleigenen TV-Kanal an.
Im Startup-Universum tummeln sich neben dem eingangs erwähnten Calm zahlreiche weitere App-Anbieter wie Aura, 10% Happier, Smiling Mind und Buddhify, die darauf warten, von risikofähigen Investoren entdeckt zu werden. Allerdings ist der Bereich kaum reguliert, weshalb der Nutzen und auch die Anlagequalität der Anwendungen stark variieren dürfte.