Ich kenne wenig Schriftsteller. Eigentlich nur einen, und der ist Berber. Ein Obdachloser, einer von diesen Menschen, die in Innenstädten betteln. Aber Richard Brox hat mich noch nie um etwas gebeten. Im Gegenteil. Seit ich ihn kennenlernen durfte, hat er mir immer nur gegeben. Zunächst Hilfe, dann Freundschaft. Erstaunlich.
Angefangen hat es 2009. Wir hatten beschlossen, Stuttgarter Obdachlosen zu helfen. Aber wie? Im Internet stiess ich auf eine Art TripAdvisor für Berber. Ein Herr Brox – selbst Obdachloser – bewertete Notunterkünfte. Landesweit. Das war unser Mann.
Zwei sehr herzliche Gespräche später stand er bei uns vor der Türe. «Ich komme helfen», hatte er gesagt. «Der Berber ist ein scheues Reh, und ich finde die Hilfsbedürftigen.» Drei Tage lang verteilten wir Mützen, Unterwäsche und Schlafsäcke. Nichts davon erbat Brox für sich. Ich lernte einen aussergewöhnlichen Menschen kennen.
Odyssee am Rand der Gesellschaft
Kind von alkoholkranken Eltern, die an ihren KZ-Traumata verzweifelten. Drogenkarriere und Vollwaise. Mit 21 beginnt seine Odyssee am Rand der Gesellschaft.
Tagelöhner, Bettler, Verprügelter, Ausgestossener. Und doch bewahrt er den Glauben, auch an sich. Zwei Ereignisse retten ihn: die zufällige Begegnung mit dem Internet – er erfindet seine Ratgeberseiten – und die mit Günter Wallraff, der ihn für eine Reportage «entdeckt» und später seine Biografie vermittelt. «Kein Dach über dem Leben» ist über 20 Wochen «Spiegel»-Bestseller, in der achten Auflage. Er ist in TV, Radio und Presse. In der «NZZ» hatte er eine ganze Seite.
Und jetzt? Reichtum? Reintegration? Eine feste Wohnung? Nicht wirklich, aber das will Richard Brox auch gar nicht, er ist schon zu lange auf der Strasse. Eine feste Beziehung? Ein Wunschtraum, aber Vertrauen ist auf der Strasse so selten wie ein loser 1000-Euro-Schein.
Lieber redet er über die Sache der Berber. Seine Sache. «Weisst du», sagt er, «jeder Obdachlose ist für sich selbst verantwortlich. Aber in den Graben schubsen darf man die Menschen nicht. Und wenn sie darin liegen, darf man sie nicht dafür verachten. Die sind doch schon unten!»
Ein Hospiz für Obdachlose
Richard hat einen Traum: ein Hospiz für Obdachlose im Endstadium. Nichts Grosses, ein paar Zimmer, ein Arzt und ein, zwei Pflegekräfte, die ein Leben ohne Liebe würdig beenden helfen. Er, dem die Gesellschaft fast jeden Tag die kalte Schulter zeigt, möchte «etwas zurückgeben» und legt jeden Cent dafür zur Seite. Ein Verein in Köln hilft ihm. «Ich bin Projektleiter!», sagt er, und Stolz füllt seine intelligenten Augen. Und ich überlege, wann ich das letzte Mal so stolz auf einen Titel war.
«Kein Dach über dem Leben» ist keine grosse Literatur. Aber es ist eine Geschichte zwischen den Zeilen. Und ein toller Mensch hinter dem Buch. Beides kann ich empfehlen.
Was man dann daraus macht? Richard Brox meint dazu: «Man sollte jetzt nicht mit 50-Franken-Scheinen durch die Schweiz laufen und Obdachlose beglücken. Aber wenn Sie das nächste Mal einen Obdachlosen sehen, lächeln Sie ihm einfach zu, anstatt sich wegzudrehen. Kälte und Hunger sind wir gewohnt, aber an Ausgrenzung gewöhnt man sich niemals!»
2020 soll sein Hospiz eröffnet werden, auch mit Hilfe des Bücherverkaufs. Glückauf, Richard Brox!
*Marc Langenbrinck ist Chef von Mercedes-Benz Schweiz.