Die Finanzmärkte in Europa stehen seit vielen Monaten im Zeichen des Brexits. Die im November 2018 getroffene Vereinbarung würde garantieren, dass es im Frühjahr 2019 zu einem geordneten und damit wirtschaftlich zumindest vorerst glimpflichen EU-Austritt kommt. Dank einer Übergangsfrist bis mindestens Ende 2020 würde für Unternehmen und Banken erst einmal alles beim Alten bleiben. Falls das britische Parlament jedoch seine Zustimmung verweigert, es zu einem Misstrauensvotum gegen die Regierungschefin Theresa May oder sogar zu Neuwahlen kommt, besteht die Gefahr, dass das Land in einen ungeordneten EU-Austritt schlittert. Festzuhalten bleibt, dass der Ausgang der Austrittsverhandlungen nicht nur Rückwirkung auf die Entwicklung der britischen Volkswirtschaft und deren Finanzaktiva haben wird, sondern auch auf die gesamteuropäischen Märkte.
Doch wie werden die Anleger auf den Nachrichtenfluss aus Westminster und Brüssel reagieren? Werden sie ihr Pulver trocken halten und die weitere Entwicklung abwarten oder werden sie versuchen, die Entwicklungen zu antizipieren und ihre Asset Allocation danach auszurichten? Laut den Analysten der UBS sollten sich Investoren aber nicht für ein bestimmtes Verhandlungsergebnis positionieren, da die weitere politische Entwicklung in London zu unberechenbar sei. Das Einzige, was sich aus Sicht von Volkswirten und Anlageexperten zumindest grob abschätzen lässt, sind die Auswirkungen der verschiedenen politischen Szenarien auf die Finanzmärkte. Denn trotz des erzielten Austrittsabkommens könnte es im kommenden Jahr durchaus zu einem ungeordneten No-Deal-Brexit kommen.
Britisches Pfund könnte weiter unter Druck geraten
Unabhängig davon, welches Szenario eintreten wird: Die Unsicherheiten der vergangenen Monate haben bereits ihre Spuren auf der Insel hinterlassen. Deutlich erkennbar sind die Verwerfungen am Devisenmarkt, wo das britische Pfund je nach Newsflow starken Schwankungen ausgesetzt war. Ein harter Brexit und insbesondere ein Brexit ohne Abkommen dürften das Pfund Sterling unter Druck setzen. Die Korrekturen können dabei ein ähnliches Ausmass annehmen wie direkt nach dem Brexit-Referendum, sagt Didier Borowski, Chefvolkswirt von Amundi, Paris.
Um Kursverluste beim Pfund abzusichern, rät der Volkswirt zu Optionsstrategien. Denn je näher das Austrittsdatum rücke und je mehr die Unsicherheit zurückweiche, desto weniger relevant würden einige dieser Optionsgeschäfte und desto mehr werde sich der Pfundkurs stabilisieren. Überdies gehen die wenigsten Analysten davon aus, dass ein harter Brexit bereits in den Kursen eingepreist ist. Eine Umfrage des Vermögensverwalters Schroders unter Marktteilnehmern kommt zum Ergebnis, dass das Pfund von derzeit gut 1,2755 Dollar auf rund 1,12 Dollar absacken würde, was einer Abwertung von mehr als 10 Prozent entsprechen würde. Auch die Strategen von Capital Economics rechnen damit, dass das Pfund bei einem ungeordneten Brexit gegenüber dem US-Dollar auf 1,12 fallen könnte. Andernfalls – als bei einem geordneten Brexit – könnte das Pfund Sterling gegenüber dem Dollar lediglich auf etwa 1,20 fallen.
Nicht alle britischen Aktien haben unter dem Brexit gleichermassen gelitten. Während die Kurse der Grossbanken am deutlichsten einbrachen, haben sich dank des schwachen Pfunds insbesondere Titel mit einem hohen Exportanteil und geringem Pfund-Exposure nach dem Brexit relativ gut entwickelt und dürften auch bei einem harten Brexit weiterhin outperformen. Wer Short-Positionen in britischen Aktien hält, sollte andersherum sicherstellen, dass die geshorteten Aktien in erster Linie ein Inlandsexposure haben, betont Amundi-Volkswirt Dombrowski. Wohl auch aufgrund der guten Performance der britischen Exportunternehmen hat der FTSE 100-Index in den vergangenen 12 Monaten mit einem Rückgang von lediglich 4,9 Prozent deutlich besser abgeschnitten als der Euro Stoxx 50, der immerhin 11 Prozent verlor.
Warnung vor einer Rezession
Angesichts der Tatsache, dass ein No-Deal-Szenario negative Auswirkungen auf die britische Wirtschaft hätte, warnte die Ratingagentur Moody's Grossbritannien nachdrücklich davor, dass ein Austritt aus der EU im kommenden Jahr ohne ein Abkommen weitreichende Folgen hätte. Darüber hinaus gab man zu Bedenken, dass die Risiken für die britische Wirtschaft in den vergangenen Monaten ohnehin erheblich zugenommen hätten. Falls es zu einem Inflationsschub kommt, könnte dies die Konsumenten dazu veranlassen, ihre Konsumausgaben zu senken. Dies wiederum dürfte das Wirtschaftswachstum dämpfen und das Land möglicherweise in eine Rezession stürzen. Auch Standard & Poor‘s sieht im Fall eines Post-Brexit-Deals ein Szenario, in dem die Inflation auf 4,7 Prozent steigt, die Arbeitslosenquote sich bis 2020 auf von derzeit 4,0 Prozent auf 7,4 Prozent erhöht und die Preise auf dem Londoner Büromarkt bis 2021 um 20 Prozent fallen könnten.
Noch skeptischer ist die Bank of England (BoE) gestimmt. Einer Analyse im Auftrag der britischen Regierung zufolge rechnet die BoE im «Worst Case»-Szenario mit BIP-Einbussen von 8 Prozent innerhalb eines Jahres. Ferner dürfte das britische Pfund als Konsequenz der Ablehnung eines EU-Austrittsvertrages um 25 Prozent abwerten, die Hauspreise um 30 Prozent fallen, die Arbeitslosenquote bis 2020 auf 7,5 Prozent anziehen (aktuell: 4,1 Prozent), die Inflation bis dahin auf 6,5 Prozent steigen (aktuell: 2,4 Prozent) sowie die Leitzinsen in der Spitze bis auf 5,50 Prozent treiben.
Auswirkungen eines No-Deal-Szenarios
Selbst wenn derzeit nicht abzusehen sei, welches Szenario eintreten wird, sei bei einem No-Deal-Szenario davon auszugehen, dass die Bank von England mit einer deutlichen Lockerung der Geldpolitik reagieren wird, um die Rezession abzumildern, sagt Pieter Jansen, Senior Strategist Multi-Asset bei NN Investment Partners. Ein harter Brexit dürfte laut Jansen vor allem negative Auswirkungen auf riskantere Anlageklassen haben, wozu in erster Linie Aktien zählen. Gleichzeitig erwarten die Experten eine Flucht in sichere Anlagen, was weltweit zu fallenden Staatsanleiherenditen führen würde. Darüber hinaus dürfte nach Einschätzung von Capital Economics die britische Notenbank die Zinsen von 0,75 Prozent auf 0,25 Prozent absenken und in Erwartung einer Konjunkturabschwächung die quantitative Lockerung eventuell wieder einleiten. Laut dem Wirtschaftsforschungsunternehmen dürfte in diesem Fall die 10-jährige Gilt-Rendite in beiden Ausprägungen des No Deals von 1,4 Prozent auf 0,75 Prozent sinken und damit noch etwas höher notieren als das Tief von etwa 0,6 Prozent nach der Brexit-Abstimmung. Bei einem ungeordneten Brexit würde die Geldpolitik wahrscheinlich länger locker bleiben.
Auf die Eurozone dürfte ein «No Deal Brexit» nur geringe Auswirkungen haben. Nach der Einschätzung von Andrew Kenningham, Chief Global Economist von Capital Economics, wird sich die Wirtschaftstätigkeit in der Eurozone im Jahr 2019 wahrscheinlich nur um 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte verringern. Demgegenüber würden die Auswirkungen in Irland im zweiten und dritten Quartal 2019 wohl erheblich grösser, betont der Chefvolkswirt. Zwar dürften auch europäische Aktien bei einem No-Deal unvermeidlich fallen – nach dem Einbruch werden sich die Aktien aber alsbald erholen, sind sich die Strategen von Capital Economics sicher. Mit Blick auf die globalen Auswirkungen gibt Kenningham zu bedenken, dass diese selbst im No Deal-Szenario bescheiden wären. Auch die Folgen für die meisten europäischen Volkswirtschaften wären gering, da die Exporte nach Grossbritannien weniger als 3 Prozent des BIP ausmachten.