Eine Quote besteht immer aus zwei Zahlen – dem Zähler und dem Nenner. Bei der Arbeitslosenquote steht im Zähler: die Anzahl der Menschen ohne Arbeit. Im Nenner steht die totale Erwerbsbevölkerung. Ein Beispiel aus der Schweiz: Hier stehen laut Angaben des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) 141'000 registrierte Arbeitslose einem Total von 4,3 Millionen Erwerbspersonen gegenüber. Die Arbeitslosenquote liegt demnach bei 3,3 Prozent.

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Warum ich Sie mit diesem Anfängerkram nerve? Weil Arbeitslosenstatistiken voller Fallgruben stecken. Es kommt auf die Zahlen hinter den Zahlen an, gerade beim Vergleich verschiedener Quoten. Wer nicht genau hinschaut, kann bei der Interpretation der Statistiken auf die Nase fliegen. Etwa bei folgender Gegenüberstellung, die in den letzten Wochen die Runde gemacht hat: der Erwerbslosenquote nach ILO-Definition in der Schweiz und in Deutschland. Hier eine Grafik dazu, basierend auf Angaben des Bundesamtes für Statistik und des Statistischen Bundesamtes in Deutschland.

Das Bild legt nahe, dass es auf dem Schweizer Arbeitsmarkt nicht mehr zum besten steht. Demnach wäre die Arbeitslosigkeit in Deutschland inzwischen unter das Schweizer Niveau gefallen. Vermeintlichen Rückhalt erhält diese These durch den Umstand, dass hier zwei Quoten miteinander kontrastiert werden, die nach derselben Definition ermittelt werden: jene der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Nebst ihrer eigenen Amtsstatistik publizieren viele Länder diese Statistik zu internationalen Vergleichszwecken. Gemäss dieser Definition gilt auch als arbeitslos, wer explizit nicht auf einem Arbeitsamt gemeldet ist.

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Doch der Vergleich hinkt trotz gemeinsamer Definition. Ein erstes Zahlenset, das stutzig macht, ist die Anzahl der Personen, die in der Schweiz und in Deutschland effektiv beim Arbeitsamt gemeldet sind, und dort jeweils in der offiziellen Statistik auftauchen. Diese Personenzahl ist in der Schweiz erwartungsgemäss tiefer als die Erwerbslosenzahl gemäss ILO. In Deutschland aber ist sie höher. Über 800'000 Personen gelten laut Bundesagentur für Arbeit (BA) als arbeitslos, kommen aber in der ILO-Statistik nicht vor.

Diese Tatsache geht unter anderem auf die Definitionen zurück. Einen Job hat gemäss der ILO-Konvention bereits, wer mindestens eine Stunde pro Woche arbeitet. Bei der deutschen Bundesagentur für Arbeit ist der Kreis grösser. Hier gilt auch als arbeitslos, wer weniger als 15 Stunden pro Woche arbeitet, aber gerne mehr arbeiten würde. Der Unterschied ist einer der Gründe, warum die aktuelle Erwerbslosigkeit in Deutschland nach BA bei 6,0 Prozent und nicht bei 4,5 Prozent steht. In der Schweiz liegt die Grenze des Seco übrigens bei 6 Arbeitsstunden pro Woche.

Aus den Zahlen-hinter-den-Zahlen geht hervor: Deutschland mag zwar Fortschritte beim Abbau der Arbeitslosigkeit gemacht haben – aber nach wie vor herrscht im nördlichen Nachbarstaat eine beträchtliche Unterbeschäftigung. Zahlreiche Leute würden eigentlich gerne mehr arbeiten, tun es aber nicht. Dass an dieser These etwas dran ist, zeigt eine Studie des deuschen Instituts für Maktroökonomie und Konjunkturforschung vom Januar dieses Jahres. Sie zeigt: Wenn Schweizer Teilzeit arbeiten, dann tun sie das überwiegend freiwillig. Dagegen ist der Anteil der Teilzeit-Jobber, die gerne Vollzeit arbeiten würden, in Deutschland bedeutend grösser.

Finden Stellensuchende in Deutschland wirklich einfacher einen Job? Eine dritte Zahl setzt ein Fragezeichen auch hinter diese Vermutung. Diesmal geht es nicht um den Zähler, sondern um den Nenner in der Erwerbslosenstatistik – also um das Total der Erwerbsbevölkerung. Sie liegt nach Angaben des BFS in der Schweiz aktuell bei 4,8 Millionen Personen. Das statistische Amt in Deutschland weist eine Zahl von gut 43 Millionen Menschen aus.

Setzt man diese Werte ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zwischen 15 und 74 Jahren, so ergibt sich in der Schweiz ein Verhältnis von 76 Prozent und in Deutschland eines von 69 Prozent. Ein auffällig grosser Unterschied für die beiden Länder, die insgesamt eine ähnliche Bevölkerungsstruktur aufweisen. Man kann die Differenz dahingehend interpretieren, dass in der Schweiz die Erwerbstätigenquote einfach höher ist: ein grösserer Anteil der Bevölkerung nimmt am Arbeitsleben teil.

Die andere, weniger schmeichelhafte Erklärung lautet, dass die Dunkelziffer in Deutschland bedeutend höher ist. Ein paar Millionen Einwohner tauchen gar nirgends in der Statistik auf – vielleicht, weil sie nicht nur arbeitslos sind, sondern in derart prekären Verhältnissen leben, dass die Behörde, welche die Erhebung nach ILO-Schema durchführt, sie nicht einmal mehr erreichen kann.

In diesem Licht bekommt die ILO-Arbeitslosigkeitsstatistik eine neue Note. Deutschland hat zweifellos in den letzten Jahren einen Boom erlebt und zahlreiche Jobs schaffen können – davon profitiert indirekt auch die Schweiz. Doch das dank Agenda 2010 und Euro-Mitgliedschaft entstandene Jobwunder hat seine Schattenseiten. Unser Nachbarland ist heute ein eigentliches Billiglohnland geworden. Minijobs, die mit weniger als 450 Euro im Monat vergütet werden, sind zwar in letzter Zeit etwas zurückgegangen, aber nach wie vor weit verbreitet.

«Bemerkenswert ist, dass in Deutschland parallel zum Rückgang der Erwerbslosigkeit und zum Anstieg der Erwerbstätigkeit die Lohn- und Einkommensungleichheit zugenommen hat», schreibt Boris Zürcher, Chef der Direktion für Arbeit im Seco, als Antwort auf eine Anfrage zu den Arbeitslosenstatistiken. «In der Schweiz ist dagegen das Lohnniveau grundsätzlich höher. Auch wertschöpfungsschwache Arbeitsstellen werden vergleichsweise besser bezahlt. Und die Ungleichheit ist über die letzten Jahre ziemlich stabil geblieben.»

Simon Schmid
Chefökonom bei der Handelszeitung. Früher beim Tages-Anzeiger. Wirtschafts- und sozialwissenschaftlich inspirierter Schreiber.
Twitter: @schmid_simon

 

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