Der Arbeitskräftemangel ist in den letzten Jahren zu einem ernst zu nehmenden Problem geworden. Wenn Unternehmen oder der Staat nach Mitarbeitenden suchen, dann finden sie heute einen leer gefegten Arbeitsmarkt vor. Die wohl am häufigsten gestellte Frage ist: Wo sind denn all die Arbeitskräfte hin?
Die sind immer noch alle da. Dem Schweizer Arbeitsmarkt sind keine Arbeitskräfte abhandengekommen, wie so häufig unterstellt wird. Entgegen der landläufigen Vorstellung ist die Beschäftigung sogar kräftig gewachsen. In den letzten drei Jahren betrug das Wachstum des Arbeitsvolumens 1,5 Prozent pro Jahr. Das ist das Dreifache des Wachstums der erwerbsfähigen Bevölkerung im gleichen Zeitraum. Dabei war das Ausgangsjahr dieser Berechnung 2019 ein Jahr mit Vollbeschäftigung. 1,5 Prozent pro Jahr sind 20 Prozent mehr als im Schnitt des starken Arbeitswachstums seit Einführung der Personenfreizügigkeit.
Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Nicht das Arbeitskräfteangebot ist das Problem. Wir haben keinen Mangel an Menschen, die arbeiten oder arbeiten wollen. Die Nachfrage nach Arbeit ist das Problem. Die Arbeitsnachfrage wächst stärker, als das nachhaltig für die Schweiz darstellbar ist. Die Folge sind Inflation und Zuwanderung.
Negative Realzinsen befeuern den Arbeitsmarkt
Im Zentrum dieser Entwicklung steht der Staat. Nicht nur ist der Staat als Arbeitgeber direkt und als Regulator indirekt für ein starkes Beschäftigungswachstum verantwortlich. Auch die Geldpolitik heizt den Arbeitsmarkt an. So wirken die sehr tiefen Zinsen, die eine direkte Folge der Wechselkurspolitik der SNB sind, seit Jahren stark stimulierend auf die Nachfrage nach neuen Mitarbeitenden.
Wir Ökonomen wissen, dass es dabei vor allem auf den Realzins ankommt. Der ergibt sich, wenn man vom Leitzins die Inflationsrate abzieht. Nimmt man die Kernrate der Inflation zur Berechnung des Realzinses, um kurzfristige Verzerrungen von Energie- und Lebensmittelpreisen auszublenden, liegt dieser mit –1,2 Prozent deutlich im negativen Bereich.
Gerechtfertigt scheint eine solche Zinspolitik angesichts der aktuellen Wirtschaftslage nicht. Negative Realzinsen gelten in der Ökonomie als ein Mittel, um das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum zu beschleunigen. Angesichts leer gefegter Arbeitsmärkte erscheint das unsinnig. Warum die SNB die Zinsen so tief hält, ist auf der anderen Seit klar. Seit nunmehr zehn Jahren betreibt sie eine aktive Wechselkurspolitik. Damit ist sie offensichtlich über das Ziel einer nachhaltigen Beschäftigungsentwicklung hinausgeschossen.
In der Kolumne «Freie Sicht» schreiben der Ökonom Klaus Wellershoff von Wellershoff & Partners, Reiner Eichenberger, Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg, sowie der «Handelszeitung»-Chefredaktor Markus Diem Meier. Die in der Kolumne vertretenen Ansichten müssen sich nicht mit jener der Redaktion decken.