So schnell geht es. Noch vor drei Monaten erschien China als solider Wall der Weltwirtschaft. Jetzt könnte man meinen, das Land sei der grosse Krisenherd. Was immer aus den Statistik-Büros in Peking herauskommt, wird global als mehr oder weniger bedrohlich beurteilt: der Autoabsatz (rekordtief), der Einkaufsmanager-Index (gesunken), die Gewinne der Industriefirmen (tiefer), Zahlungsausfälle und Pleiten (gestiegen). Und soeben meldete China für Oktober bis Dezember ein Wachstum von 6,4 Prozent: Es war der lahmste Quartalszuwachs seit 1990. Prompt kamen die Aktienmärkte ins Trudeln.

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Wann die Wahrnehmung kippte, lässt sich genau festmachen: am Mittwoch, den 2. Januar, abends. Da versandte der Tech-Riese Apple ein Statement, in dem er, weitherum verblüffend, tiefere Umsätze eingestand, und Konzernchef Tim Cook erläuterte die trüben Ergebnisse mit dem Satz: «Mehr als 100 Prozent unseres weltweiten Umsatzrückgangs geschah in Mainland China.» Das heisst: Eigentlich wuchs der Absatz weiter – aber China riss alles herunter.

Erhellend waren dabei weniger die Zahlen als diverse Zusätze in Cooks Communiqué («eine signifikant stärkere Wirkung, als wir erwartet hatten»). Denn sie besagten: Selbst Apple hat keine Ahnung, wie sich das Chinageschäft derzeit entwickelt.

Sicher ist also nur, dass das Reich der Mitte verunsichert. Es irritiert auch Schweizer Firmen. Sie stochern ebenfalls im Nebel, wenn sie auch noch nicht im Panikmodus sind. «Verschärfte Umweltschutzmassnahmen und verschärfte Bedingungen für die Zulassung von PKWs hatten für die Automobil- und Chemische Industrie negative Auswirkungen», sagt der Leiter des S-GE Swiss Business Hub in China, Yves Morath. Konkret: Die Autozulieferer spüren, dass Beijing bei der Zulassung von Fahrzeugen bremste. Und die in China sehr starke Schweizer Chemieindustrie ist nicht mehr so frei in ihrer Auswahl für neue Produktionsstandorte. Mit neuen Umweltvorschriften konfrontiert sind die Wachstumschancen gestört.

Einer der grössten Schweizer Industriesektoren mit Standorten in China ist die Autozuliefererbranche. Sie kämpft mit einem Absatzrückgang vor Ort und einer sinkenden Nachfrage nach dort erzeugten Komponenten. Dies wiederum beeinflusst die Standortplanung.

«In gewissem Masse würden wir von einer gedämpften Lohninflation profitieren»

Arnd Kaldowski, CEO Sonova

Der Autozulieferer Feintool aus Lyss spürte es in den letzten Monaten auf zwei Ebenen – bei direkten Umsätzen in China wie beim  Export durch Kunden von Feintool. Beides blieb hinter den Erwartungen. «Wo kurzfristig möglich und notwendig, passen wir die Kapazitäten den neuen Gegebenheiten an», sagt Feintool-Chef Knut Zimmer. Doch er weiss auch, dass solche Marktschwankungen zum Geschäft gehören – auch wenn man sie im China-Handel länger nicht mehr gespürt hat: «Mittel- und langfristig sind wir überzeugt, dass sich der Automobilmarkt auch in China positiv entwickeln und weiter wachsen wird.»

Ähnlich tönt es bei Autoneum. 2018 bekam der Winterthurer Zulieferer zu spüren, wie die Autoproduktion in China im Vergleich zum Jahr davor zu sinken begann. «Sollte sich die Prognose 2019 für ein verhaltenes Wachstum in China bestätigen, wird Autoneum seine Produktionsplanung entsprechend der regionalen Nachfrage anpassen», so eine Sprecherin.

Für die Solothurner Schaffner Gruppe, Lieferant unter anderem für die Auto-, Bahn- und Stromindustrie, «wird für die weitere Entwicklung entscheidend sein, wie lange die Verunsicherung des chinesischen Marktes anhält», sagt Firmenchef Marc Aeschlimann. Die massgebenden Faktoren: wann der Handelsstreit mit den USA gelöst und wie sich die Wirtschaftsprogramme der KP-Regierung auswirken.

Essen die Chinesen so viel mehr?

Wer in China tätig ist, der weiss also: Da braut sich was zusammen. Aber er weiss nicht so recht was. Schon die Datenlage ist diffus. Ein amerikanischer Ökonom und Landeskenner, Christopher Balding, rechnete aus den neuesten BIP-Zahlen heraus, dass jeder einzelne Chinese im letzten Jahr 7,7 Prozent mehr hätte essen müssen als 2017, wenn das offizielle Plus beim Lebensmittelabsatz stimmen soll. Andererseits gibt es Hinweise, dass in China die Kauflust sinkt. Hinzu kommt der Zollstreit. Hinzu kommen gezielte Blockaden der Regierung bei der Verschuldung. Hinzu kommen neue Umwelt-Auflagen.

Dem nicht genug: «Strengere Gesetze bei Sozialabgaben und Steuern bremsten das Wachstum chinesischer und ausländischer Firmen, die lokal produzieren», analysiert Morath. Da dies zu höheren Personal- und Produktionskosten führte, kam es auch zu Stellenabbau.

Wenn nun das Wachstum sinkt, hätte das aber zumindest einen positiven Effekt:  einen Dämpfer bei den Produktionskosten. Denn: «In gewissem Masse würden wir von einer gedämpften Lohninflation profitieren», sagt Sonova-Chef Arnd Kaldowski. Sein Unternehmen betreibt die grösste Hörmittelfertigung in China.

«Wo kurzfristig möglich und notwendig, passen wir die Kapazitäten den neuen Gegebenheiten an.»

Knut Zimmer, CEO Feintool

Das, was Sonova spürt, heisst im Jargon: «middle income trap» – die Falle auf dem Weg nach oben. Chinas Löhne erreichen eine Zwischenstufe, das Land steckt mit den Kosten auf halbem Weg zwischen Billiglohn- und Industrieländern. Das heisst: Ein weiterer Modernisierungsschub steht an. Produktivität und Effizienz müssen nochmals hochgedrückt werden. 

Chinas Wirtschaft ist gross, nicht stark

Chinas Wirtschaft sei gross, aber nicht stark: Diese kritische Bilanz zog das KP-Blatt «China Daily» zu Jahresbeginn. Das Land müsse innovativer werden, es müsse alte Betriebe erneuern, es benötige einen neuen Organisationsstil – und zwar rasch.

Kurz: Das Reich der Mitte ist in einer wackligen Lage. Als Präsident Xi Jinping jüngst vor Provinz-Kadern über die mächtigsten Risiken für China sprach, nannte er als Punkt eins den «schwarzen Schwan» und das «graue Nashorn» – also Gefahren, die man kaum zu beachten pflegt, die aber das ganze Wirtschaftssystem erschüttern können.

Es zieht sich durch von der Staatsspitze in Beijing bis zur Exportfirma aus der Schweiz: Ein Gefühl der Vorsicht ersetzt die alte Zuversicht. Der Werkzeughersteller Mikron rechnet gegebenenfalls damit, dass die «sehr gut ausgelasteten Produktionswerke in der Schweiz und in Deutschland» betroffen wären, sollte die Nachfrage zurückgehen, so Mikron-Finanzchef Javier Perez-Freije. Mit einem signifikanten Einfluss rechnet er zwar nicht. Aber: «In Summe würden wir den Aufbau des Vertriebs für Werkzeuge verlangsamen oder temporär einfrieren.» China sei für Mikron wichtig, sagt Perez-Freije – derzeit noch mit einem geringen Umsatzanteil der Gruppe, «jedoch mit wachsender Bedeutung».
Hier spiegelt sich das doppelbödige Gesamtbild. Einerseits wirkte Chinas Wachstum 2018 irgendwie enttäuschend – jahrzehntelang war man anderes gewöhnt. Andererseits bedeutete der Zuwachs von 6,6 Prozent, wenn man ihn in Dollar ausdrückt, immer noch Gewaltiges: Chinas Wirtschaft legte um 800 Milliarden zu – das Land schuf in einem Jahr eine Volkswirtschaft, die grösser ist als jene der Schweiz. So trüb der Nebel also sein mag: Er birgt riesige Chancen.

«Wir reagieren überhaupt nicht auf die Erwartungen oder Schätzungen von sogenannten Experten, Ökonomen, Analysten oder Spezialisten»

Nick Hayek, CEO Swatch Group

Bei OC Oerlikon macht China bereits ein Drittel des Konzernumsatzes aus. Oerlikon verzeichnete dort 2018 ein Umsatzwachstum von über 50 Prozent. Das macht Chef Roland Fischer weiter zuversichtlich: «Unabhängig von einer kurzfristigen Verlangsamung sind wir überzeugt, dass China mittel- bis langfristig weitere strukturelle Wachstumschancen bieten wird.»

Zollstreit? Apple? Schwarze Schwäne? Nicht ablenken lassen

Fürs Erste schliessen fast alle Schweizer Firmen mit China-Fokus einen Rückgang oder eine Verlangsamung nicht aus. Aber entscheidend ist wohl, sich davon so wenig ablenken zu lassen wie von Apple-Zahlen, schwarzen Schwänen oder einem Zollstreit. So sieht es der Topmanager der Schweizer Uhrenindustrie. «Wir reagieren überhaupt nicht auf die Erwartungen oder Schätzungen von sogenannten Experten, Ökonomen, Analysten oder Spezialisten», sagt Swatch-Chef Nick Hayek. «Alle ihre Schätzungen sind sowieso falsch. Schauen Sie mal was in den letzten Jahren alles prophezeit wurde, aber nie passiert ist.»