Ein Thema dominiert in diesen Wochen die öffentliche Diskussion: Wie weit soll der Staat die wegen der Corona-Epidemie verordneten Einschränkungen wieder zurücknehmen? Dabei ist immer wieder von «der Wirtschaft» die Rede, die angeblich für eine Lockerung der Massnahmen plädiert.
Dies behaupten insbesondere Gegner der Lockerung. Dabei wird der Begriff «die Wirtschaft» häufig benutzt, um einen Gegensatz zwischen Gewinnorientierung und Solidarität zu konstruieren und den Befürwortern der Lockerung niedere Motive zu unterstellen. Ist das wirklich so? Wer ist das eigentlich, «die Wirtschaft»?
Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Im Idealfall tut jeder das, was er oder sie gut kann, und tauscht seine Leistung am Markt gegen die Güter und Dienste ein, die andere erstellen. In dieser Gesellschaft ist die Elektrikerin genauso abhängig von der Ärztin wie ein Manager von einer Kinderbetreuerin. Auch die Milizleistungen, die in vielen Fällen Arbeitsteilung erst ermöglichen, gehören in diesen Zusammenhang.
Löhne, Ferien, Arbeitsbedingungen: Es gibt immer wieder Konfliktpunkte
Wer gehört dann zur Wirtschaft? Doch wohl alle, die an diesem Prozess teilnehmen. Arbeitgebende gehören dazu genauso wie Arbeitnehmende, der Hausmann genauso wie die Topmanagerin. Gewerkschafter genauso wie Arbeitgebervertreterinnen. Interessanterweise sind die Interessen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden in den Grundfragen oft identisch.
Aktuell bemühen sich beide darum, dass das Arbeiten weitergeht, dass Lernende ihre Abschlüsse machen können und dass Schulabgänger den Weg in den Arbeitsmarkt finden. Das soll nicht verniedlichen, dass es unterschiedliche Interessen gibt.
Klaus Wellershoff ist Ökonom und Verwaltungsratspräsident des Beratungsunternehmens Wellershoff & Partners. Er war zuvor zwölf Jahre Chefökonom des Schweizerischen Bankvereins beziehungsweise der UBS. Er unterrichtet Nationalökonomie an der Universität St. Gallen.
Im Gegenteil. Ob Löhne, Ferien oder Arbeitsbedingungen – es gibt immer wieder Konfliktpunkte. Nur: Die haben mit «der Wirtschaft» häufig wenig zu tun. Sie reflektieren bestenfalls Partikularinteressen einiger Mitglieder von Verbänden, manchmal auch nur die Interessen der Verbandsfunktionäre selbst.
Als Unternehmer fühlen viele sich nicht von den sogenannten Wirtschaftsdachverbänden vertreten. Und den meisten Menschen fehlt wohl auch die Fantasie, sich vorzustellen, dass die Fundamentalopposition der Gewerkschaften gegen das institutionelle Rahmenabkommen etwas mit der Vertretung der Interessen der Schweizer Arbeitnehmenden zu tun haben könnte.
Die Wirtschaft ist etwas anderes, als die Verbandsvertreter, die entweder in ihrem Namen oder als deren Gegenpol auftreten, uns weismachen wollen. Die noch aus den Zeiten des Klassenkampfes stammende Rhetorik verschleiert eine Realität, in der unsere Interessen viel paralleler verlaufen, als es denen, die von diesem Gegensatz leben, genehm ist.
Wir werden daran erinnert, dass der Markt dem Staat überlegen ist
Vielleicht wird zu den wenigen guten Ergebnissen dieser Krise gehören, dass wir angesichts der enormen wirtschaftlichen Auswirkungen, welche die Krise auf unser aller Leben hat, uns wieder bewusst werden, dass wir alle Teil dieses Wirtschaftssystems sind.
Wir werden wohl auch daran erinnert, dass der Markt in vielen Bereichen nicht nur eine Voraussetzung für unsere Freiheit bedeutet, sondern auch dem Staat als Lenkungsmechanismus deutlich überlegen ist.
Vielleicht hört dann damit auch der überholte Gebrauch der Metapher von «der Wirtschaft» auf. Die Wirtschaft sind wir alle und wir alle haben ein vitales Interesse daran, dass sie funktioniert. Und zwar nicht nur wegen unserer Einkommen oder Gewinne, sondern vor allem, weil unsere Wirtschaftsordnung unsere freiheitlichen Grundwerte reflektiert.