Ein Land, so reich wie kein zweites auf der Welt - und doch leben in der Schweiz 500 000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Dabei ist die Ungleichheit in den allermeisten entwickelten Ländern weitaus drastischer: Erst die wirtschaftliche Schieflage und die sich öffnende Vermögensschere begünstigte den Aufstieg des Aussenseiters Donald Trump zum US-Präsidenten. Und so mancher Beobachter ist sicher: Der Brexit wäre vermeidbar gewesen, hätte die Politik die ökonomischen Sorgen der britischen Bevölkerung ernst genug genommen.
Diese sind im Jahr 2017 vielschichtig: Seit der Finanzkrise steigen die Reallöhne in kaum einem entwickelten Land nennenswert - und die tiefen Zinsen frustrieren die Kleinsparer; die Börsen hingegen klettern von einem Rekordhoch zum nächsten. Gleichzeitig sorgt die Digitalisierung für gigantische Umwälzungen. Die Angst, Roboter könnten dereinst unsere Jobs erledigen, treibt viele, gerade unterqualifizierte Menschen, um.
Robert Shiller: «Marx hat die Geschichte geformt»
Für Karl Marx war klar, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse die Gesellschaft prägen. Und auch bei Marx geht es im Kern um die Ungleichheit - und ihre vermeintlichen Folgen. Vor genau 150 Jahren, im September 1867, publizierte der Trierer in London den ersten von drei Bänden von «Das Kapital». Wie heute war es eine Zeit des Umbruchs: Die Industrialisierung brachte riesige Fabriken hervor, in denen sich Arbeiter, selbst Kinder, täglich 15 Stunden und mehr verdingten. Marx beliess es nicht bei der Analyse: Mit dem «Kapital» lieferte er die Grundlage für die sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts. «Er hat die Geschichte geformt», so ordnet der Nobelpreisträger Robert Shiller das Schaffen des Denkers für die «Handelszeitung» ein.
Wo bewies Marx Weitsicht?
Marx trug mit seiner Arbeit weit über die Grenzen des linken Spektrums hinaus zum Verständnis der Weltwirtschaft bei. Der Wiener Jahrhundertökonom Joseph Schumpeter war fasziniert von Marx und baute seine Theorie der schöpferischen Zerstörung, die den kapitalistischen Innovationsprozess erstmals beschrieb, massgeblich auf dessen Arbeit auf. Wie von Marx vorhergesagt, entfaltete der Kapitalismus innert weniger Dekaden eine immense Dynamik und gelangte in weiten Teilen der Welt zum Durchbruch.
Die heute erlebte Globalisierung und der damit oft von Arbeitgebern geforderte Verzicht auf Lohnerhöhungen, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen, spiegeln die Aktualität Marx' Wirken. Auch prägte Marx heute geläufige Begriffe wie den der «Entfremdung» des Menschen von seiner Arbeit, den selbst der amerikanische Ökonom Shiller auf Deutsch verwendet. «Mit der Weiterentwicklung des Finanzkapitalismus und der Massenproduktion nimmt der Sinn unserer Arbeit ab», sagt er.
«Das stellt die Legitimität der Wirtschaftsordnung in Zweifel»
Für den liberalen Ökonomen Hans-Werner Sinn liegt die «wahre Leistung» von Marx in dessen makroökonomischer Krisentheorie. Er entwickelte das Gesetz der fallenden Profitrate. Marx ging davon aus, dass die Gewinne der Unternehmer im Laufe der Zeit sinken und Firmen deshalb immer weniger investieren würden. Auch diese Feststellung ist hochaktuell: Seit Jahren schon legen die Investitionen in der entwickelten Welt kaum zu. Einflussreiche Ökonomen wie Larry Summers, ehemaliger Harvard-Präsident und Barack Obamas früherer Wirtschaftsberater, prägten in den vergangenen Jahren deshalb den Begriff der «säkularen Stagnation», weil die Wirtschaft seit der Finanzkrise 2008 in vielen Ländern deutlich schwächer als früher wächst.
Entsprechend steht unser Wirtschaftssystem heute stärker in der Bringschuld. Die Arbeitslosigkeit in Ländern wie Griechenland und Spanien ist mit 20 Prozent noch immer zu hoch. Unter den jungen Menschen ist dort trotz zaghafter Erholung fast jeder Zweite ohne Job. «Das stellt die Legitimität der herrschenden Wirtschaftsordnung in Zweifel», sagt Michael Graff, Wirtschaftsprofessor an der ETH Zürich.
Wo lag Marx total daneben?
Kontrovers diskutiert wird der marxsche Begriff der «Verelendung». Richtig ist, dass sich viele Menschen heute wirtschaftlich und sozial abgehängt fühlen. Doch Marx ging in seiner Analyse ungleich weiter: Angesichts der Verelendung der Arbeiterklasse prognostizierte er einen unabwendbaren Umsturz der Kapitalgesellschaft. Über das, was danach kommt, blieb Marx vage. Der Kapitalismus würde an seinen eigenen Widersprüchen zerbrechen, war er indes felsenfest überzeugt. Doch dazu kam es nie. Im Gegenteil: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann der Lebensstandard des Industrieproletariats zu steigen, die Arbeiter verdienten mehr, als sie zum nackten Überleben brauchten.
Dies auch dank den Zugeständnissen von Fabrikeigentümern und Regierungen, die sie aus Angst vor der marxschen Revolutionsprognose machten. Der Sozialstaat entstand. In der Schweiz führte der Bund 1877 das Fabrikarbeiterschutzgesetz ein, das Arbeitszeiten beschränkte und Kinderarbeit verbot. Nach dem Generalstreik 1918 und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Sozialstaat - Arbeitslosenversicherung, AHV - markant ausgebaut. In Deutschland brachte Reichskanzler Otto von Bismarck in den 1880er Jahren die Renten- und Krankenversicherung auf den Weg.
Varoufakis: Marx irrte «wie viele grossen Denker»
Ohnehin dürfte heute ein Grossteil der Menschheit den Kapitalismus als Erfolgsstory skizzieren: Dank der Globalisierung und dem Abbau von Handelshemmnissen nimmt der Wohlstand seit Jahrzehnten stetig zu, Hunderte Millionen Menschen gelang gerade in Asien die Flucht aus der Armut. Es entstand ein nie da gewesener Wohlstand, der von Marx nicht antizipiert wurde. Selbst der linke Ökonom Yanis Varoufakis räumt ein, dass Marx mehrfach irrte - «wie viele grossen Denker», sagt der frühere griechische Finanzminister, der mit einer Arbeit über Marx promovierte. Zuvorderst ist ihm dessen Werk zu deterministisch: Die Geschichte hat entgegen Marx' Prognose kein eindeutiges Ziel. Marx bot in seinen Theorien keinen Raum für Verbesserung oder Optimismus. Zudem war er in einem mechanistischen Denken gefangen, das zwangsläufig in die Verelendung der Arbeiterschaft führte.
Auch Marx' simplizistische Einteilung der Menschen in Kapitalisten und Arbeiter greift zu kurz. Er vernachlässigte menschliche Eigenschaften wie Ehrgeiz oder Altruismus. Kapitalisten nannte er «Vampire», die ihre Belegschaft «auspressen». Marx sei zu stark auf die Idee fixiert gewesen, die Massen mitzureissen, sagt Yale-Professor Robert Shiller. «Ich mag den Mann nicht, weil er so viel Unheil über die Welt brachte.» Marx erinnere ihn in seinem übersteigerten Populismus an Trump, auch wenn er klüger gewesen sei. Marx' vage Vorstellung einer Herrschaft der Arbeiter missbrauchten Diktatoren wie Stalin oder Mao für die Errichtung ihrer Unrechtstaaten. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar. «Die Situation in Russland und China sind Nachwehen der autoritären Einparteienstaaten», sagt Ökonom und «Handelszeitung»-Kolumnist Reiner Eichenberger.
Was muss die Politik lernen?
Zur Zeit des Kalten Krieges musste sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung laufend gegenüber dem Sozialismus/Kommunismus legitimieren. Die Alternative im Osten war allgegenwärtig – und sie schreckte die meisten Menschen ab. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs sank der Erfolgsdruck auf das bestehende System. Das ist gefährlich. Denn das Unbehagen gegenüber dem Etablierten wächst, wie gerade die Wahl Trumps zeigte – selbst dann, wenn Fakten und Zahlen dieses Unbehagen gar nicht reflektieren. «Gesellschaften, die sozialen Frieden lange als gegeben annahmen, wurden in den letzten Jahren eines Besseren belehrt», warnt Lucia Waldner, Leiterin des Credit Suisse Research Institute. «Der wirtschaftliche Wandel bringt Verlierer hervor und lässt viele Menschen zurück. Um diese Abgehängten sollte sich die Politik stärker bemühen», sagt der amerikanische Produktivitätsforscher Robert Gordon.
Dies gilt heute mehr denn je angesichts der anstehenden Digitalisierungswelle. Die Wirtschaft steht an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter: Die Industrialisierung 4.0 wird von vielen Menschen als Bedrohung angesehen, denn viele traditionelle Arbeitsplätze verschwinden. Doch gerade darin steckt die grosse Chance einer neuen Ausbalancierung. Marx formulierte zwar mit seiner Revolutionsprognose ebenfalls das Ende von mühseliger und langweiliger Arbeit. Doch er dachte nicht weiter. Wird die mühselige, repetitive Arbeit von Robotern erledigt, ist die marxsche Utopie keine Bedrohung.
Ganz im Gegenteil, denn der Produktivitätsfortschritt macht es möglich. «Die Menschen könnten weniger arbeiten bei gleichzeitiger Fülle an materiellen Gütern», sagt ETH-Wissenschafter Graff. Und sie könnten sich sinnvolleren Tätigkeiten zuwenden. Doch wie zu Marx' Zeiten ist dafür entscheidend, nach welchen Kriterien die Menschen am wachsenden Wohlstand teilhaben. «Mit den jetzigen bleibt die schöne Utopie eine unerreichbare», sagt Graff. Die Verteilungsfrage ist also auch 150 Jahre nach Erscheinen des Werks «Das Kapital» von entscheidender Bedeutung.