Wir haben in der Schweiz ein austariertes System der Altersvorsorge, um das wir weltweit beneidet werden. Die Schweizer Altersvorsorge sieht sich jedoch in den nächsten Jahren mit grossen demografischen Herausforderungen konfrontiert. Besonders bei der umlagefinanzierten ersten Säule verschlechtert sich das Verhältnis von Beitragszahlern zur Anzahl Rentner gemäss Bundesamt für Statistik dramatisch: Bis 2040 erhöht sich die Zahl der Rentner von heute rund 1,5 auf 2,6 Millionen, während die Zahl der Jungen bis Lebensalter 19 lediglich von 1,7 auf 1,9 Millionen steigt.
Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft hat der Bundesrat zu Recht zwei zentrale Reformziele definiert: den Erhalt des heutigen Rentenniveaus und die finanzielle Absicherung beider Säulen. Die Arbeitgeber stellen sich ohne Wenn und Aber hinter diese Ziele – im Wissen darum, dass sie einen wesentlichen Teil der damit verbundenen Kosten tragen werden. Leider aber erreicht die Reform Altersvorsorge 2020 just diese Ziele nicht.
Es braucht in jedem Fall umgehend neue Massnahmen
Zum einen belastet sie unsere AHV mit einem Rentenausbau in einer Zeit zusätzlich, in der diese eigentlich stabilisiert werden müsste. Zum anderen senkt sie ausgerechnet bei den finanziell Schwächsten unserer Gesellschaft das Rentenniveau: Neurentner mit Ergänzungsleistungen (EL) bekommen zwar die 70 Franken an ihre AHV-Rente, derselbe Betrag wird ihnen aber von den EL abgezogen. Da sie die AHV-Rente im Gegensatz zu den EL versteuern müssen, haben wegen der Reform zehntausende EL-Bezüger in den nächsten Jahren noch weniger Geld zum Leben.
In einem Punkt sind sich heute alle einig: Sowohl bei einem Ja als auch bei einem Nein zur Reform wird es umgehend neue Massnahmen brauchen. Bei einem Ja werden sie einfach noch einschneidender ausfallen, weil der unterfinanzierte AHV-Ausbau den Druck auf die AHV-Finanzen zusätzlich erhöht. Bei einem Nein braucht es zunächst eine rasche Umsetzung der zentralen Massnahmen, die bei den vier Bundesratsparteien bisher unbestritten waren: eine moderate Erhöhung der Mehrwertsteuer und eine stufenweise Angleichung des Rentenalters für Mann und Frau zur Stabilisierung der AHV sowie die Senkung des Mindestumwandlungssatzes mit angemessener Kompensation innerhalb der zweiten Säule.
Babyboomer werden zu «Rentnerboomer»
Diese Massnahmen können bereits 2020/2021 greifen und werden die AHV für mehrere Jahre stabilisieren. Ab 2030 gehen die geburtenstärksten Jahrgänge in Pension – Babyboomer werden zu «Rentnerboomer». Die schon früher einsetzende Pensionierungswelle führt gleichzeitig dazu, dass dem Schweizer Arbeitsmarkt bis 2030 gegen eine halbe Million Arbeitskräfte fehlen werden.
Die AHV muss dadurch nicht nur viel mehr Renten finanzieren, ihr fehlen auch wesentliche Beitragszahler. Das Umlageergebnis wird sich fortan von Jahr zu Jahr verschlechtern. Fällt uns bis dahin keine alternative Lösung ein, bleibt uns nichts anderes übrig, als über eine stufenweise Erhöhung des Rentenalters sowohl die Lücke in der AHV-Kasse als auch jene auf dem Arbeitsmarkt zu schliessen.
Sich nicht mit diesem Szenario auseinanderzusetzen, ist zwar momentan im Trend. Doch ist es verantwortungsvoll, bewusst die Augen vor der Zukunft zu verschliessen? Gehen wir die demografische Herausforderung erst ernsthaft an, wenn sich die Babyboomer in die Rente gerettet haben? Wäre es nicht solidarischer, wir Babyboomer würden nicht die volle Last auf nachfolgende Generationen abwälzen?
Noch bleibt Zeit, die Herausforderungen anzugehen
Noch haben wir Zeit, die strukturellen Herausforderungen anzugehen. Zuallererst müssen wir dafür sorgen, dass der Druck auf die AHV-Finanzen nicht wegen eines AHV-Ausbaus auf Pump zusätzlich anwächst. Nach einem Nein zur Reform Altersvorsorge 2020 müssen wir rasch die unbestrittenen Massnahmen umsetzen. Das gibt uns tatsächlich die Zeit, bis 2030 eine nachhaltige Lösung für unsere Altersvorsorge zu finden.
* Roland A. Müller ist Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands.
Jeden Tag veröffentlicht die «Handelszeitung» in dieser Woche einen Kommentar zur anstehenden Abstimmung über die Altersvorsorge 2020. Bereits veröffentlicht:
- «Handelszeitung»-Chefredaktor Stefan Barmettler: «AHV-Reform – immerhin ein erster Schritt»
- Reiner Eichenberger (Finanzprofessor Freiburg) und Ann Barbara Bauer (Assistentin): «Die bessere Reform – Anreize für freiwille Altersarbeit»
- Daniel Lampart, Chefökonom Schweizerischer Gewerkschaftsbund (SGB): «Reform 2020 – zweimal Ja aus ökonomischer Sicht»