Frau Forbes, Sie wurden dieses Jahr von der Schweizerischen Nationalbank eingeladen, die Rede zum Gedenken an den Schweizer Geldtheoretiker Karl Brunner zu halten. Was war Ihre Hauptbotschaft?

Mein Hauptziel war, darüber nachzudenken, was die Zentralbanken in den letzten zwei Jahrzehnten getan haben. Sie mussten innovativ sein, sie mussten ein ganz neues Instrumentarium anpassen, sie mussten ihre Befugnisse und ihre Reichweite erheblich ausweiten und Neuland betreten, und ich wollte einen Schritt zurücktreten und darüber nachdenken, was geschehen ist, was wir gelernt haben und was wir in Zukunft besser machen können. 

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Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis?

Es gibt keine einfache Gleichung oder Regel für die Geldpolitik, wenn man über Lehren für die Zukunft nachdenkt. Jetzt ist sie viel komplexer und aufwendiger. Die jeweils geeignete Massnahme hängt von der jeweiligen Situation ab. Geldpolitik ist eine Kunst. Man sollte bestimmte Prinzipien haben.

Und welche Herausforderungen stellen sich ganz aktuell?

Wir befinden uns mitten in einem weiteren grossen Konflikt. Eine meiner wichtigsten Lektionen und Grundsätze ist, dass man immer auf externe Schocks, externe Überraschungen, vorbereitet sein muss. Ich denke, eine der wichtigsten Lehren der letzten zwei Jahrzehnte ist, dass man nie versuchen sollte, die Zukunft vorherzusagen, aber man muss Widerstandsfähigkeit aufbauen.

Zur Person

Kristin Forbes
Quelle: Bloomberg

Kristin Forbes ist Professorin für Management und globale Wirtschaft am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, einer der Eliteuniversitäten der USA. Sie gilt als Expertin für Geldpolitik und für finanzielle Ansteckungen im Finanzsektor. In der US-Regierung unter Präsident George W. Bush Teil war sie Mitglied in dessen ökonomischem Beraterstab und von 2014 bis 2017 externes Mitglied des geldpolitischen Entscheidungsgremiums der britischen Notenbank (Bank of England). Das Gespräch hat am Rande einer Veranstaltung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) in Zürich stattgefunden. Forbes hat auf Einladung der SNB die diesjährige Karl-Brunner-Vorlesung der Schweizerischen Nationalbank zu Ehren des 1989 verstorbenen Schweizer Geldtheoretikers Karl Brunner gehalten.

Die Notenbanken haben in den letzten Jahren die Inflationsentwicklung falsch eingeschätzt. Was meinen Sie dazu?

Ich denke, dass die Zentralbanken die Inflation in den Jahren 2021 bis 2022 falsch prognostiziert haben. Sie dachten, sie sei die Folge eines vorübergehenden Angebotsschocks, etwa durch die Probleme mit den Lieferketten oder die Invasion in die Ukraine. Das hat zu der langsamen Reaktion der Zentralbanken beigetragen, denn sie glaubten, nicht aggressiv reagieren zu müssen. Heute wissen wir, dass ein grosser Teil des Inflationsanstiegs auf einen massiven Nachfrageschub zurückzuführen ist. 

Sind wir jetzt über den Berg?

Nein, die Arbeit ist noch nicht beendet. Die Inflation geht zwar zurück, aber ich meine, dass wir angesichts einer Eskalation des Konflikts im Nahen Osten, einer ölproduzierenden Region, auf einen weiteren Schock gefasst sein müssen, der die Inflation wieder ansteigen lassen könnte.

Sollten die Notenbanken nach den jüngsten Fehleinschätzungen über die Bücher gehen?

Die Zentralbanken sollten sich nicht zu sehr auf ihre Prognosen und Modelle verlassen. Und das gilt nicht nur für Zentralbanken, sondern für alle Wirtschaftswissenschaftler. Ich habe niemanden gesehen, der den Inflationsschub der letzten Jahre vorhergesagt hat. Was ich mir mehr wünschen würde, ist eine explizite Szenario-Analyse.

Was meinen Sie damit?

Man sollte ein Basisszenario festlegen, das zeigt, worin die Risiken liegen. Ein solches Szenario wäre zum Beispiel ein eskalierender Konflikt im Nahen Osten. In diesem Beispiel liegt das Risiko in einer stark steigenden Inflation. Konkrete Szenarien sind für Unternehmen und Menschen greifbarer als komplexe Prognosemodelle, um über die Risiken nachzudenken. 

Noch vor kurzem haben Notenbanken Massnahmen ergriffen, die man einst für unmöglich gehalten hat. Das gilt vor allem für negative Leitzinsen und massive Käufe von Anleihen. In der Schweiz waren es Devisen. Wie beurteilen Sie das?

Noch 2008 haben die meisten Ökonominnen und Ökonomen nicht geglaubt, dass negative Zinssätze funktionieren könnten. Negativzinsen verschaffen einen kleinen Stimulus, aber die Wirkung ist bescheiden. Als im Jahr 2020 die Pandemie ausgebrochen ist und weitere Stimuli nötig wurden, hat kein Land seinen Zinssatz ins Negative gesenkt oder ihn weiter reduziert, wenn er schon negativ war. Negativzinsen waren kein Fehlschlag, aber es gibt bessere Wege, um geldpolitische Ziele zu erreichen.

Und wie beurteilen Sie die massiven Käufe von Anlagen, das sogenannte «Quantitative Easing», von vielen Notenbanken?

Wir haben gelernt, dass diese Käufe nicht kostenlos sind. Noch 2020 gab es eine Philosophie, die besagte, dass wir nicht über diese Kosten nachdenken müssen. Aber das müssen wir, da diese Kosten über Erwarten hoch ausfallen können, denn man hat nicht vollständig durchdacht, wann und wie schnell die Zinsen steigen und welche Folgen das auf die gekauften Anlagen hat.

Was aber kann denn eine Notenbank tun, wenn sie sich künftig erneut nicht allein auf die Leitzinsen verlassen kann?

Man sollte für solche Käufe ein Enddatum festlegen und darüber nachdenken, welche Vermögenswerte man kauft. Die Fed in den USA hat sowohl hypothekarisch gesicherte Wertpapiere als auch Staatsanleihen gekauft. Die Staatsanleihen werden schneller auslaufen, als hypothekarisch gesicherte Wertpapiere. Letztere muss man also viel länger halten, was die Kosten erhöht. Das nächste Mal sollte sich das Fed also auf den Kauf von Staatsanleihen konzentrieren, es sei denn, es besteht ein besonderer Bedarf, den Immobilienmarkt zu stützen. 

Wie beurteilen Sie das Prinzip, dass Notenbanken unabhängig sein sollen? 

Die Geschichte zeigt, dass die Unabhängigkeit der Notenbanken die beste Lösung ist, um Preis- und Finanzstabilität zu gewährleisten. Denn die Entscheidungen, welche die Notenbanken treffen müssen, sind oft politisch nicht sehr beliebt. Sobald ein politisches Referendum über die Anhebung der Zinssätze oder die Erhöhung der regulatorischen Anforderungen stattfindet, werden die Entscheidungen nicht mehr optimal sein.

Die Unabhängigkeit von demokratischen Prozessen liess sich damit rechtfertigen, dass Notenbanken nur einen kleinen Entscheidungsspielraum haben und mit der Preisstabilität eine eingeschränkte Aufgabe. Doch die erwähnten ausgedehnten Instrumente haben diesen Rahmen gesprengt.

Sie haben recht, die Rolle der Zentralbank ist gewachsen, und ihre Reichweite geht jetzt über sehr kleine technische Instrumente hinaus. Die Entscheidungen, die sie treffen, haben eine grössere Auswirkung auf das Land und die Staatsfinanzen, daher ist es sinnvoll, dass es mehr Mitspracherecht und mehr Diskussionen gibt.

Konkret?

Ich denke, wir sollten einen Schritt zurücktreten und so weit wie möglich über einige der institutionellen Rahmenbedingungen nachdenken. Mir gefällt die Idee, dass man Mandate festlegt und es dann der Zentralbank überlässt, wie sie diese unabhängig umsetzen kann. Ansonsten befürworte ich Strukturen, die jenen der britischen Notenbank ähneln, und ich hoffe, dass mehr Länder diese in Betracht ziehen. 

Was ist das Besondere an diesen Strukturen? 

Die britische Notenbank hat einen geldpolitischen Ausschuss, der ein Mandat zur Preisstabilität hat, und sie hat Instrumente, Zinssätze oder Programme zum Ankauf von Vermögenswerten, um das zu erreichen. Aber zusätzlich hat sie eine separate Gruppe, die mit makroprudenziellen Massnahmen und der Finanzstabilität betraut ist, und sie hat sogar einen Regierungsvertreter in diesem Ausschuss, aber nur einen.

Bei der Schweizerischen Nationalbank entscheidet nur ein dreiköpfiges Direktorium. Wo liegt der Vorteil beim britischen System? 

Besonders gefällt mir daran, dass es auch unabhängige Aussenseiter gibt, die gleichberechtigt wie der Notenbankchef und die Insider abstimmen. Im geldpolitischen Komitee entfallen vier von neun Stimmen auf die unabhängigen Aussenseiter. Das Einbeziehen verschiedener Ansichten – der externen Experten und anderer Standpunkte – trägt meiner Meinung nach zu einem ausgewogenen Machtverhältnis bei, so dass nicht so viel Autorität in den Händen einiger weniger liegt, und das macht eine Institution stärker. Das ist umso wichtiger, wenn es um Entscheidungen geht, für die es keine eindeutigen Antworten gibt. 

Welchen Einfluss hat die Geldpolitik in einem einzelnen Land angesichts der internationalen Vernetzungen der Finanzmärkte überhaupt noch?

Die Korrelationen auf den globalen Finanzmärkten haben im Laufe der Zeit deutlich zugenommen. Es gibt einen globalen Finanzzyklus, vor allem an den Aktienmärkten. Diese bewegen sich sehr eng zusammen, das gilt generell, aber besonders in Krisenzeiten: Sie brechen gemeinsam zusammen ein und sie erholen sich gemeinsam. 

Also nur ein kleiner Einfluss einer Notenbank auf das eigene Land?

Bei den realen Aktivitäten, wie beim Wachstum des Bruttoinlandprodukts und bei der Beschäftigung, gibt es während Krisen auch eine Korrelation – wie während der Pandemie oder während der globalen Finanzkrise. Ausserhalb von Krisen ist das BIP-Wachstum aber nicht stark international korreliert. Das ist angesichts der Integration durch Handel und Kapitalströme und der Integration der Finanzmärkte eigentlich erstaunlich. Die inländische Politik hat also für die Realwirtschaft Bedeutung – mehr als die Schwankungen auf den internationalen Märkten. 

Sie haben sich auch mit Fragen der Finanzstabilität befasst. Wie beurteilen Sie hier die jüngste Entwicklung? Wie Sie wissen, ist in der Schweiz die Grossbank Credit Suisse untergegangen. 

Wir hatten vor der Finanzkrise kein ausreichendes Verständnis für die Risiken in der Finanzbranche, und die meisten Länder haben sehr hart gearbeitet und makrofinanzielle Instrumente und Behörden, strengere Vorschriften, höhere Eigenkapitalanforderungen und Abwicklungspläne für systemrelevante Institute entwickelt. Das ist alles gut, aber es gibt immer noch Lücken, es muss noch mehr getan werden. Ich denke, der Zusammenbruch der Credit Suisse war ein Beispiel dafür, dass wir Fortschritte gemacht haben. Wir hatten einen Plan, aber der war weit weg davon, perfekt zu sein. 

Worin besteht Ihrer Ansicht nach der grösste Unterschied bei den Banken verglichen mit der Finanzkrise?

Im Vergleich zu damals kann ein Ansturm auf eine Bank innerhalb von ein oder zwei Tagen erfolgen und durch die sozialen Medien können sich Gerüchte viel schneller verbreiten, was einen Ansturm auf eine Bank beschleunigt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Finanzbehörden diese Szenarien im Voraus durchdacht haben. Wenn man keinen Plan hat, ist die erste Reaktion meistens, alles zu tun, was nötig ist. Dann kommt es zu Rettungsaktionen, die am Ende viel teurer sind als nötig und viel weniger effizient. Und man schafft gefährliche Fehlanreize bei den Banken.

Was kann man denn tun?

Der Marktmechanismus muss funktionieren. Rettungsaktionen sollten nur in extremen Stresssituationen eingesetzt werden, die das gesamte Finanzsystem bedrohen. Aus diesem Grund denke ich auch, dass im Voraus sorgfältig überlegt werden sollte, was die Kriterien sind, wer Zugang erhält, wie stark der Stress sein muss, um Zugang zu erhalten, und wer entscheidet, wer Zugang erhält. Und dann sollte jeder, dem beigestanden wird, eine Strafe zahlen. Notkredite und -liquidität sollten nicht subventioniert werden. 

Welche Rolle spielen strengere Eigenkapitalanforderungen? Sie sind immer ein besonderer Zankapfel zwischen Aufsichtsbehörden und Banken.

Strenge Kapitalanforderungen sind wichtig, aber nicht nur sie. Es geht auch um Liquiditätsanforderungen, die sich je nach Land, seinen Währungen und anderen Risiken unterscheiden. Ein breiteres Spektrum an Instrumenten ist nötig. Wenn man sich auf nur eine Anforderung konzentriert, werden die Banken einen Weg finden, sie zu umgehen. Und ich würde mir wünschen, dass antizyklische Kapitalanforderungen viel stärker genutzt werden. In Boomzeiten sollte man sie erhöhen, in Abschwungphasen und Rezessionen senken.

Wo sehen Sie aktuell die grössten Risiken im Finanzbereich?

Die Finanzintermediation findet mehr und mehr ausserhalb der regulierten Banken statt. Deshalb gibt es mehr Risiken ausserhalb des Systems, die wir nicht verstehen. Die Banken sind immer noch finanziell mit diesen Institutionen verbunden. Deshalb sind wir nicht so sicher, wie wir uns vielleicht fühlen, und wir müssen weiter daran arbeiten, die Mängel in unserem Aufsichtssystem zu beheben. 

Ein anderes vieldiskutiertes Risiko ist die hohe Verschuldung selbst entwickelter Länder wie der USA. Wie sehen Sie das?

Das beunruhigt mich zutiefst. Besonders grosse Sorgen bereitet mir in Bezug auf die hohe Staatsverschuldung in den USA, dass wir dort keine ernsthafte Diskussion dazu führen. Es scheint bei den Politikerinnen und Politikern kein Gespür dafür zu geben, dass wir nicht weiter so viel Geld ausgeben können, ohne das zu finanzieren. Dabei befindet sich die Verschuldung auf einem unhaltbaren Pfad. 

Immerhin können sich die USA eine höhere Verschuldung leisten als andere. 

Ja, die Vereinigten Staaten haben den Vorteil, mit dem Dollar die Weltreservewährung zu haben. Dennoch befindet sich die Verschuldung auf einem zutiefst unhaltbaren Pfad. Und wenn wir nicht bald Anpassungen durch die Politik vornehmen, werden uns Anpassungen aufgezwungen, die noch schmerzhafter sein werden, als wenn wir jetzt handeln.

Sehen Sie denn bereits Anzeichen dafür, dass die Welt weniger als bisher bereit ist, die Schulden der USA zu finanzieren?

Länder, die über überschüssige Ersparnisse verfügen und bisher Staatsanleihen kauften – wie der Nahe Osten und China – tun das nicht mehr im gleichen Ausmass, wie sie das früher getan haben. Mit einem Defizit von 7 Prozent am BIP wird es zudem immer mehr Schulden geben, während die Zentralbanken weniger davon kaufen beziehungsweise ihre Bestände sogar auflösen wollen. Wer wird nun als Käufer noch einspringen?